Wissenschaften

Zwischen Weite und Enge dem Wesen der Landschaft auf der Spur

Nicht nur der in Stahl-, Teer- und Betonwüsten lebende Mensch hat sich von der Natur völlig distanziert. Auch außerhalb der Stadtgrenzen finden sich heute kaum noch unkultivierte Orte, die nicht hinsichtlich der menschlichen Nutzbarkeit optimiert sind. Dies bedeutet nicht, dass die Natur an sich beherrschbar geworden ist - das Risiko ökologischer Katastrophen mag in den letzten Jahrzehnten sogar gestiegen sein. Doch die Furcht, aufgrund von Dürreperioden oder Überschwemmungen Hunger leiden zu müssen, scheint für die Bewohner hochentwickelter Handelsnationen endgültig der Welt von gestern anzugehören. Diese gewichene (Ehr-)Furcht vor der Natur jedoch ist untrennbar verbunden mit dem Verlust des "schönen" Naturerlebnisses. Die erhabenen Landschaften von einst liegen heute unter unseren industriellen Überbauungen begraben. In seinem Buch Landschaft. Das Freie und seine Horizonte widmet sich der Philosoph Hans-Dieter Bahr der Aufgabe, die Bedeutung von Landschaft für uns zu bergen.

In einer begrifflichen Abgrenzung wird dem Leser zunächst die Komplexität des Themas vor Augen geführt: "Landschaft" ist etwas anderes als "Land", welches ebenso wie "Gebiet" praktisch beherrscht, wissenschaftlich erforscht oder politisch begrenzt ist. Auch ist "Landschaft" nicht gleichbedeutend mit dem diffusen Begriff "Gegend". Selbst Naturschutzgebiete zur Wiederherstellung und Bewahrung der heimischen Flora und Fauna haben eine andere Bedeutung, sind diese doch an den demokratischen Kriterien eines heutigen Durchschnittsbetrachters ausgerichtet und lassen das natürliche Unvertraute einer Landschaft nicht (mehr) zu. Völlig ungeeignet, der Bedeutung von Landschaft näher zu kommen, sind darüber hinaus Wissenschaften wie die Geographie, die zwar die räumliche Beschaffenheit eines Landes messbar macht, dabei jedoch nie das Wesen einer Landschaft erfassen kann.

Hans-Dieter Bahr zufolge lässt sich die Bedeutung von Landschaft in positivem Sinne außer in der Malerei, der Musik und der Dichtung nur durch philosophisches Denken ermitteln. Die beiden großen Kosmogonien des Abendlandes, Moses Genesis und Hesiods Theogonia, (sowie die Kosmologien der Vorsokratiker Thales, Parmenides und Heraklit) bieten dem Autor dafür das kulturgeschichtliche Fundament. Neben dem Earl von Shaftesbury, der in Rückgriff auf Platons Phaidros den Begriff der "Landschaft" in die Philosophie einführte, setzt Hans-Dieter Bahr einen Schwerpunkt seiner Untersuchungen auf Kants ästhetische Unterscheidung zwischen "Schönheit" (Sinnenlust) und "Erhabenheit" (Erschauern vor der unermesslichen Größe der Natur) und ihre Rezeption im deutschen Idealismus (Hegel, Schelling, Schopenhauer). Wesentlich für Bahrs Überlegungen ist der im 18. Jhdt. der Musik entlehnte Begriff "Stimmung". Wie bei den Tönen eines Instruments, die im Idealfall hinsichtlich eines Grundtones harmonisch aufeinander abgestimmt sind, vermittelt die Stimmung zwischen einer Landschaft und der individuellen Gemütslage eines Menschen. Die Landschaft selbst stimmt sich in ihren Bezügen zueinander - Bahr spricht von den Seinsweisen landschaftlicher Räume (Ferne und Nähe, Weite und Enge, Heimat und Fremde, etc.) - widerstreitend zu. Dieses "strittige einander Zustimmen [...] macht das Freie der Landschaft in ihren Erscheinungen aus." (S. 265).

Trotz der Beschränkung auf die abendländische Philosophie und Kunst (im Kapitel "Die Landschaft der Dichtung" werden sogar ausschließlich deutschsprachige Dichter behandelt), ist die Fülle des vom Autor zusammengetragenen Datenmaterials immens. Der vierfarbige Bildteil auf hochwertigem Bilderdruckpapier mit über 30 Landschaftsdarstellungen aus über zwei Jahrtausenden Malerei ist nur einer von mehreren Höhepunkten des Werkes. Bahr wird in seinen Ausführungen dem auf Ganzheitlichkeit Wert legenden Leser mehr als gerecht, wenn er neben der Philosophie auch diverse andere dem Thema zuträgliche Wissenschaften anführt. Er scheut weder Abstecher in die Gefilde der Geographie oder zu den Gesetzen der Wahrnehmung, noch übergeht er die kunstgeschichtliche Bedeutung der Entdeckung der Perspektive. Der Physiognomie, der Wissenschaft, die zwischen den (äußeren) Gesichtszügen eines Menschen und dessen (innerer) Wesensart eine Relation sieht, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem Bahr auf der Suche nach dem Wesen von Landschaften deren Züge und Gestalten untersucht.

Hans-Dieter Bahr äußert sich nicht darüber, ob und wie wir der Landschaft wieder "ferner" kommen können. Sein mindestens ebenso großer Verdienst jedoch liegt darin, uns vor Augen zu führen, was wir für die "zivilisierte" Erholung in künstlich angelegten Freizeitparks und Ferienanlagen alles aufgegeben haben.

Ein sehr wertvolles Buch - nicht nur für Kulturwissenschaftler, sondern jeden, der beständig die Stellung des Menschen in unserer Welt hinterfragt.

Martin Cremers
24.08.2015

 
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Das Buch:

Hans-Dieter Bahr: Landschaft. Das Freie und seine Horizonte

Freiburg: Verlag Karl Alber 2014
351 S., € 39,00
ISBN: 978-3-495-48599-6

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