Hörbücher

Das Gras ist nicht immer grüner auf der anderen Seite

Der 1843 in New York geborene und 1916 im englischen Chelsea gestorbene Henry James ist einerseits für seine Schilderungen des Verhältnisses zwischen Amerikanern und Europäern bekannt, andererseits für seine psychologischen Charakterstudien, die fast komplett ohne Handlung auskommen und sich nur auf die Feinheiten des menschlichen Wesens beschränken. Eine solche Charakterstudie, die die Feinheiten, aber auch die Schwächen des menschlichen Wesens aufzeigt, ist die 1898 erstmals erschienene Novelle "Im Käfig", eine der etwas weniger bekannten aus dem Œuvre Henry James´.

"Im Käfig" kann - wie erwartet - mit keinem großen Plot aufwarten, dafür aber mit einem Abtauchen in die Tiefen der menschlichen Seele. Hauptperson der Novelle ist eine junge, namenlose Telegraphistin, die ihr Dasein in einem Telegraphenamt fristet, das sie als ihren "Käfig" bezeichnet. Die Telegramme, die sie tagtäglich für die feine Gesellschaft Londons durch den Äther schickt, sind Grundlage für die Geschichten, die sie sich rund um ihre Kundschaft spinnt - einzig basierend auf den kleinen Informationsbrocken, die ihr in Form der Telegramme in die Hände gespielt werden.

Besonders Captain Everard, ein regelmäßiger Kunde, hat sie in seinen Bann gezogen. Der Gentleman und seine Liebelei mit Lady Bradeen sind Gegenstand der blühenden Phantasie der jungen Telegraphistin. Sie träumt sich in eine Welt, die das genaue Gegenteil zu ihrer eigenen ist. Sie ist nämlich mit dem eher langweiligen, aber soliden und verlässlichen Mr. Mudge verheiratet, der nebenan im Kolonialwarenladen arbeitet. Die Heirat mit ihm und der Umzug in ein anderes Viertel scheint ihr im Angesicht der scheinbar so aufregenden und glamourösen Welt des Captain Everard öde und wenig erstrebenswert. Doch der feinsinnige Leser bzw. Hörer ahnt schon bald, dass der schöne Schein bei dem hübschen Everard trügt.

James´ Novelle "Im Käfig" hält dem Leser den Spiegel der eigenen Abgründe vor. Was passiert, wenn man das eigene Leben so empfindet, als wäre man in einem Käfig gefangen - sei es in dem Büro, in dem wir täglich sitzen oder sei es die Ehe, die wir eigentlich gar nicht eingehen wollen, weil wir uns davon eingeengt fühlen? Wir fangen an zu glauben, dass das Gras auf der anderen Seite grüner ist und erschaffen uns eine gedankliche Welt, die anscheinend besser ist als unsere Wirklichkeit. Auch die junge Telegraphistin ist diesem Trugschluss aufgesessen und muss am Ende feststellen, dass ihr Leben und ihr Verlobter doch nicht so schlecht sind, wie sie geglaubt hat, solange Captain Everard bei ihr auf einem Podest stand und ihn der Zauber des Geheimnisvollen umgab.

Die komplette Lesung dieser James´schen Novelle wurde vom Hörverlag auf vier CDs herausgegeben, die sich in einem Pappschuber inklusive Booklet mit Infos über Autor und Sprecher und einem Essay über "Im Käfig" befinden. Hanns Zischler, seines Zeichens nicht nur Schauspieler, verdienter Hörbuchsprecher und Fotograf, sondern selbst auch Schriftsteller und Verleger, liest die Novelle mit dem nötigen Gespür für die feinfühlige Literatur von Henry James, dessen 100. Todestag in diesem Jahr im literarischen Kalender steht. Ein Hoch auf den Amerikaner, der als Pendler zwischen alter und neuer Welt galt und dessen feines Gespür und außerordentliche Beobachtungsgabe seinen psychologischen Romanen und Novellen zugutekam!

Sabine Mahnel
04.01.2016

 
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Das Buch:

Henry James: Im Käfig. Aus dem Amerikanischen von Gottfried Röckelein

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Sprecher: Hanns Zischler
München: Der Hörverlag 2015
Spieldauer: 280 Min., € 24,99
ISBN: 978-3-8445-2051-4

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