Hörbücher

Erst heiter, dann zu Tode betrübt

Man kommt dieser Tage einfach nicht vorbei an Olympia 1972. Zum fünfzigsten Jahrestag sind die Gazetten und Mediatheken voll mit Rückblicken auf die zu Beginn bunten und heiteren Olympischen Sommerspiele von München und natürlich auf das Attentat, das die naiven Veranstalter mit brutaler Härte treffen sollte. 27 Jahre nach Kriegsende und 36 Jahre nach Hitlers olympischer Propaganda-Show in Berlin hatte die Welt Deutschland und München großes Vertrauen entgegengebracht, um ein anderes Deutschland präsentieren zu dürfen. Tatsächlich passte Ende August in der bayrischen Landeshauptstadt dann auch alles zusammen: Das herrliche Wetter, die begeisternden Wettkämpfe und eine Atmosphäre der Weltoffenheit. Deutschland war im kollektiven Olympia-Taumel, bis in den frühen Morgenstunden des 5. September palästinensische Terroristen im olympischen Dorf israelische Sportler als Geiseln nahmen. Eine an Dilettantismus kaum zu überbietende Kette an Fehlentscheidungen führte schließlich zum größten anzunehmenden Unfall: Alle Israelis waren zu Tode gekommen, dazu noch ein deutscher Polizist und mehrere Terroristen.

Fünfzig Jahre später hält der Buchmarkt etliche Abhandlungen bereit, die sich sehr intensiv mit Olympia 72 und dem damaligen Zeitgeist beschäftigen. Eines davon ist "München 72 - Ein deutscher Sommer" aus der Feder von Markus Brauckmann und Gregor Schöllgen. Während der Historiker Schöllgen die Spiele von München einst als junger Mann bereits live miterleben durfte, war sein Mitstreiter Brauckmann, ein preisgekrönter Regisseur und Drehbuchautor, noch zu jung, um die Ereignisse aufsaugen zu können. Als Tandem legen die beiden allerdings ein äußerst vorzügliches und leicht zu konsumierendes Werk vor, das nicht nur als Print-Ausgabe, sondern auch als ungekürzte Hörbuch-Ausgabe erschienen ist. Die zwei vorliegenden mp3-Scheiben liefern beste Unterhaltung über mehr als 13 Stunden, auch ein Verdienst von Stephan Schad, dem versierten Sprecher, der es versteht, an den entscheidenden Stellen die stimmlichen Schwerpunkte zu setzen.

Die beiden Autoren haben in "München 72" streng chronologisch gearbeitet, so dass ihre Handlungsstränge wie in einem Roman oder Krimi mehrfach unterbrochen und wiederaufgenommen werden. Zu Beginn liegt der sportliche Fokus auf den Turn- und Schwimmwettbewerben, wo mit Karin Janz und Mark Spitz zwei der erfolgreichsten Olympioniken von 1972 Hauptrollen einnehmen. Der Spannungsaufbau lebt erstmal von der Sehnsucht der heimischen Anhänger nach der ersten Goldmedaille, die schließlich von Heide Rosendahl im Weitsprung abgeliefert wird. Überhaupt ist es die Leichtathletik als olympische Kernsportart, die auch dieses Hörbuch dominiert. Aus deutscher Sicht wenig überraschend, da mit dem "Goldenen Sonntag" und dem Hochsprung-Märchen von Ulrike Meyfarth an den beiden letzten Tagen vor der Zäsur sehr nachhaltige Einträge in das Geschichtsbuch des deutschen Sports geschrieben wurden.

Mit dem Kapitel "Tag 11" legt sich ein Schatten auch auf das vorliegende Werk. Die Ereignisse am zweiten Dienstag der Spiele erschüttern auch fünfzig Jahre danach immer noch. Brauckmann und Schöllgen gelingt es, sehr viele verschiedene persönliche Perspektiven auf diesen Tag auszuarbeiten, was einem einen allumfassenden Blick auf Olympias schwärzeste Stunde liefert. Überhaupt haben die Autoren ein Hauptaugenmerk daraufgelegt, den Zeitgeist zu Beginn der siebziger Jahre zu transportieren. Immer wieder erfolgen Einschübe aus der Kategorie "Panorama", wenn aus seinerzeit erschienen Magazinen zitiert wird, um die Stimmung und die Denkweise der Menschen in Deutschland zu präsentieren. So schafft es sogar Uschi Glas, im vorliegenden Hörbuch Erwähnung zu finden.

In der Palette an Büchern, die in diesem Jahr erschienen sind, nimmt "München 72 - Ein deutscher Sommer" eine wichtige Rolle ein. Es ist nicht das Werk, das allumfassend jeden Olympiasieger und Medaillengewinner benennt oder tiefe Einblicke in die politischen Verstrickungen insbesondere rund um das Attentat bereithält, sondern das Buch, das den bundesrepublikanischen Zeitgeist anno 1972 am besten beschreibt und erlebbar macht. Man bekommt dank intensiver Recherchen ein sehr präzises Gefühl dafür, wie die Eltern- und Großeltern-Generation seinerzeit "tickte". Auch die Erlebniswelt der Sportler wird von Brauckmann und Schöllgen sehr gut durchleuchtet, so dass man erfährt, was Frank Shorter antrieb oder was Holger Geschwindner bewegte. "München 72" ist das ideale Vehikel für eine Zeitreise in ein Deutschland vor 50 Jahren.

Christoph Mahnel 
04.10.2022

 
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Das Buch:

Markus Brauckmann, Gregor Schöllgen: München 72. Ein deutscher Sommer

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Sprecher: Stephan Schad Berlin: Der Audio Verlag 2022 Spielzeit: 792 Min., € 25,00 ISBN: 978-3-7424-2390-0

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