Hörbücher

Hänsel und Gretel im Ostblock

Deutschland in den Achtzigern: Anna und Max, beide fast 14, sind Nachbarskinder. Sie leben in einem Wohnblock in der DDR, lernen sich aber erst kennen, als Annas Mutter mal wieder betrunken auf der Straße umfällt und Max sie rettet. Während die Mutter schnarchend ihren Rausch ausschläft, beschließen die beiden die Flucht. Einfach weg. Sie trampen Richtung Polen, geraten in die Fänge eines Ehepaares, das Kinder an Fabrikbesitzer verkauft, bekommen eine Ahnung vom Glück in Budapest und werden in Rumänien zum Betteln gezwungen. Doch die Flucht gelingt: In Constanta gehen die beiden als blinde Passagiere an Bord eines türkischen Frachtschiffs. Anna und Max lassen eine Heimat zurück, die ihnen keine war, und starten Hand in Hand in ein neues Leben, mit ungewissem Ausgang ...

Aus der wechselnden Perspektive von Anna und Max berichtet Berg von der ganz normalen Pubertätshölle, mit Verlassenheitsgefühlen, erstem Verliebtsein und Eifersucht. Warmherzig und skurril, zärtlich und grotesk erzählt sie von der Flucht aus der doppelten Repression durch Eltern und Staat. Dabei bewegt sich ihr Buch irgendwo zwischen Märchen und Coming-of-age-Roman, Satire und Romanze. Das hat Seltenheit auf dem deutschen, gar internationalen Literaturmarkt. Spätestens durch die Lesung von Fritzi Haberlandt und Alexander Khuon wird die "Lektüre" zu einem äußerst wertvollen Schatz. Diese sollte man hüten wie das Kostbarste in seinem Leben. Mehr noch: Sie verändert unser Dasein, unser Denken, unsere Emotionen für immer. Definitiv zum Niederknien, und zwar in jeder Hinsicht!

Dabei zeigt sich während der Lesefassung von 229 Minuten: Annas und Max' Geschichte ist wie die vieler anderer Menschen von damals, und doch so anders. Sie wagen es und brechen aus. Raus aus der Kindheit, raus aus der DDR. Fort von Eltern, die nicht mit ihnen sprechen, hinein in ein selbstbestimmtes Leben. Sie trampen durch den Ostblock bis ans Schwarze Meer, wo sie per Schiff in die Türkei türmen wollen, und entkommen dabei nicht nur Kinderhändlern und der rumänischen Polizei, sondern erleben ein ganz neues Gefühl: Eine erste zarte Liebe erwacht.

Unterhaltung, die einen so sehr berauscht wie nichts anderes im Bücherregal/CD-Player - die Romane von Sibylle Berg sind das Schönste, was einem überhaupt passieren kann. Diese machen den Leser bzw. Zuhörer ganz schwindelig, regelrecht high. "Habe ich dir eigentlich schon erzählt ..." zu lauschen, ist das Beste auf der ganzen Welt. Die Story zieht einen vollkommen und mit allen Sinnen in den Bann. Auch der Sogwirkung von Fritzi Haberlandts und Alexander Khuons Lesung zu entkommen, ist schier unmöglich. Diese fesselt vom ersten bis zum letzten Satz, klingt noch lange im Herzen, im Kopf, in der Seele nach. Ein ähnlich berührendes, poetisch anmutendes, betörendes Vergnügen gelingt nur den wenigsten Autor(inn)en sowie Sprecher(inne)n. Was für ein Geniestreich, der helle Wahnsinn!

Mit "Habe ich dir eigentlich schon erzählt ..." beweist Sibylle Berg einmal mehr eindrucksvoll: Sie gehört zu den begnadetsten Geschichtenerzählerinnen Deutschlands. Ihr schriftstellerisches Können ist von solcher Genialität, dass es einem nicht nur Atem und Sprache verschlägt, sondern darüber hinaus glatt vom Hocker haut. Ihr Talent begeistert, noch mehr jedoch die Lesung von Fritzi Haberlandt und Alexander Khuon. Die beiden Sprecher machen die knapp vier Stunden Spielzeit zu Blockbusterkino für die Ohren. Etwas Besseres als die Schauspieler am Mikrofon gibt es nicht. Absolut grandios!

Susann Fleischer 
04.07.2022

 
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Das Buch:

Sibylle Berg: Habe ich dir eigentlich schon erzählt ... Ein Märchen für alle

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Sprecher: Fritzi Haberlandt, Alexander Khuon Berlin: Argon Verlag 2022 Spielzeit: 229 Min., € 16,95 ab 14 Jahren ISBN: 978-3-8398-4404-5

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