Hörbücher

Ein Leben im Libanon

Als anno 2011 der Arabische Frühling in Nordafrika und im Nahen Osten die Menschenmassen mobilisiert, um gegen die totalitären Regimes zu protestieren, sorgt in Beirut der Fund von zwei Leichen für Aufregung. Gleichzeitig schreibt Amin die Erinnerungen an seine Kindheit und seine Jugend nieder. Als 12-jähriger Junge war er im Jahre 1994 nach den Wirren des libanesischen Bürgerkrieges mit seiner Großmutter Yara nach Beirut zurückgekehrt. Mit seinem besten Freund Jafar streifte er einst durch die Gassen der von den Kriegsfolgen äußerlich wie auch innerlich zerstörten Hauptstadt des Libanon. Amin, der anders als seine Mitmenschen die Bombardements während der Jahre des Bürgerkrieges nicht miterleben musste, trifft dabei auf eine seltsam verschlossene Stadt.

"Ein Lied für die Vermissten" lautet der Titel des neuesten Romans von Pierre Jarawan. Der im Jahre 1985 in Jordanien geborene Sohn eines Libanesen und einer Deutschen hatte ähnlich wie Amin das Glück, dass seine Familie rechtzeitig dem Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 im Libanon tobte, entkommen konnte. Jarawan wuchs in Deutschland auf und katapultierte sich vor vier Jahren mit seinem Debütroman "Am Ende bleiben die Zedern" auf die Landkarte deutscher Schriftsteller und in die hiesigen Bestsellerlisten. Mit seinem neuen Roman begibt sich der Autor erneut auf eine Spurensuche in den Libanon. Jarawan, der mit seinen Geschichten das Leid der Libanesen anschaulich machen und den Menschen näherbringen möchte, erachtet dieses Thema für so gewaltig, dass sein erster Roman nicht ausreichte, um diesem gerecht zu werden.

Nach dem Erfolg von Jarawas einfühlsamem Erstling war "Ein Lied für die Vermissten" herbeigesehnt worden, so dass wenig überraschend neben der Buchausgabe sogleich auch eine Hörbuchausgabe produziert wurde. Die ungekürzte Lesung unterhält einen rund 14,5 Stunden lang, und dafür sorgt der Autor höchstpersönlich. Für gewöhnlich sind derartige Autorenlesungen einer gewissen Profilneurose geschuldet, doch bei Pierre Jarawan ist der Fall anders gelagert. Schließlich hat er eine nicht unwesentliche Historie im Poetry Slam aufzuweisen. Bei dieser Wettbewerbsform treten Literaten mit ihren Texten, die sie selbst verfasst haben und dem Publikum vortragen, gegeneinander an. Jarawan gehört dabei zu Deutschlands Besten, er hat sogar die Teilnahme an einer Poetry-Slam-Weltmeisterschaft vorzuweisen. Bei der vorliegenden, sich über zwei mp3-CDs erstreckenden Hörbuchausgabe gefällt darüber hinaus sehr, dass im Booklet eine ausführliche Kapitel-Übersicht abgebildet ist und jedes Kapitel mit den Nummern der relevanten Tracks versehen ist, sodass man beim Hören stets den Überblick behält.

Bei der Erzählung von Amins Erinnerungen wechselt der Autor sehr sprunghaft zwischen Orten und den verschiedenen Zeitebenen. Glücklicherweise tut dies dem Hörgenuss keinen Abbruch. Jarawan selbst findet, dass Erinnerungen niemals stringent seien und somit auch nicht chronologisch erzählt werden könnten respektive müssten. In "Ein Lied für die Vermissten" taucht man als Hörer ein in eine Familiengeschichte, die viele Entwicklungen und Wendungen erfahren hat. Man lässt sich fallen, folgt Amin durch Beirut und sein Leben und nimmt Anteil am Schicksal seiner Familie und der Menschen im Libanon. Wenn Amin bei seinen Recherchen und Erkundungen in Beirut auf eine Mauer des Schweigens trifft, wird einem klar, dass die Jahre des Bürgerkrieges für eine immerwährende Angst davor, dass die Geister wieder geweckt werden könnten, gesorgt haben.

Belletristisch lässt sich "Ein Lied für die Vermissten" irgendwo zwischen den Kategorien "Familienroman" und "Politischer Roman" einsortieren. Jarawan sorgt nämlich dafür, dass er den mehr als 17.000 Vermissten aus dem libanesischen Bürgerkrieg eine Stimme gibt. Gleichzeitig macht er deutlich, wie sehr es ihm widerstrebt, dass der Libanon, Staat wie auch Menschen, nicht bereit ist, seine Geschichte angemessen aufzuarbeiten.
Pierre Jarawan begeistert mit "Ein Lied für die Vermissten" seine Leserschaft und seine Zuhörer erneut. Die Geschichte Amins schlägt sich dank des eindringlichen Schreibstils des Autors Bahn in den Köpfen von Lesern und Hörern. Es dürfte nicht verwundern, wenn Jarawan aufgrund der Bedeutung dieses Themas für ihn in naher Zukunft einen weiteren Libanon-Roman folgen ließe.

Christoph Mahnel 
11.05.2020

 
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Das Buch:

Pierre Jarawan: Ein Lied für die Vermissten

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Sprecher: Pierre Jarawan Untermünkheim: steinbach sprechende bücher 2020 Spielzeit: 869 Min., € 22,00 ISBN: 978-3-86974-415-5

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