Hörbücher

Eine Frage der Schuld

Direkt nach Kriegsende beginnt für die meisten deutschen Familien eine Phase der Neuorientierung. Geld und Lebensmittel sind knapp, dazu sind viele Männer an der Front gefallen oder kehren als psychische Wracks nach Hause zurück. So auch im Hause Schöning in Velda, einem Dorf in der Eifel. Die starke Mutter sorgt dafür, dass sie und ihre vier Kinder das Leben irgendwie meistern können. Nachdem der Vater zurückgekehrt ist, zerschlägt sich die Hoffnung auf ein gestärktes Familienleben jedoch alsbald. Die Traumata des Krieges lassen den Vater zu Gott und der Kirche finden, wohin dieser sich fortan zurückzieht. Nach dem tragischen und plötzlichen Tod der Mutter stehen die vier Kinder praktisch alleine da. Der Vater versucht im Zusammenspiel mit dem Pfarrer, die Kinder in Heime aufzuteilen, doch das energische Veto von Henni, der ältesten Tochter, kann dies verhindern. Henni übernimmt die Regie im Hause Schöning und sorgt fast im Alleingang für das Wohl aller.

Die ersten Jahre nach dem Ende des Krieges sind in den Grenzgebieten geprägt vom Schmuggel stark nachgefragter Lebensmittel. Henni, die zufällig Wind von solch lukrativen Geschäften bekommt, sieht eine Möglichkeit gekommen, ihren Geschwistern etwas "Wohlstand" zu ermöglichen. Da sie sich in dem von Mooren durchzogenen Hohen Venn perfekt auskennt, nutzt sie die Chance, auf nächtlichen Schmuggeltouren zu Geld zu kommen. Doch als die Kontrollen immer strenger werden, kommt es schließlich zur großen Katastrophe. Henni, die irgendwann begonnen hat, auch zwei ihrer jüngeren Geschwister auf die Beutezüge mitzunehmen, wird im Schneetreiben von einem Grenzer überrascht, und es kommt zu einem tödlichen Schuss. Anschließend ist nichts mehr, wie es einmal war, und die drei verbleibenden Kinder werden in Heime verschickt, wo willkürliche Gewalt und Sadismus auf der Tagesordnung stehen. Die Auswirkungen sind auch über zwanzig Jahre später noch zu spüren, bis Henni sich vor Gericht des doppelten Mordes verantworten muss.

"Grenzgänger" lautet der Titel des neuesten Romans aus der Feder von Mechtild Borrmann. Die ausgebildete Pädagogin hat innerhalb weniger Jahre die Schriftstellerei von einer Leidenschaft zur Meisterschaft entwickelt. Mit ihrem Roman "Trümmerkind" war ihr vor knapp zwei Jahren der Durchbruch gelungen. Die auf mehreren zeitlichen Ebenen und in verschiedenen Regionen Deutschlands spielende Geschichte um Hanno Dietz war sowohl als Buchausgabe wie auch später als Hörbuch ein voller Erfolg. Ihr Erfolgsrezept hat Borrmann nun für "Grenzgänger" wiederverwendet. Die schwerpunktmäßig in der Eifel, aber auch punktuell in Lüttich, Nürnberg oder Trier allokierte Handlung spannt die Autorin über knapp zweieinhalb Jahrzehnte. Ausgangspunkt sind verschiedene Anhörungen und Verhandlungen vor Gericht im Jahre 1970, die sich allerdings erst allmählich durch die Rückblenden in die Vierziger, Fünfziger und Sechziger Jahre zu einem Gesamtbild fügen.

Wer dafür sorgt, dass renommierte Verlage seine Werke zeitgleich als Buch- und Hörbuchausgabe auf den Markt bringen, der kann mit Fug und Recht für sich konstatieren, "es geschafft zu haben". Parallel zur gedruckten Ausgabe bei Droemer hat der Argon Verlag eine ungekürzte Hörbuchausgabe der knapp 300 Seiten veröffentlicht. Sieben Stunden lang liest mit Vera Teltz eine gekonnte Sprecherin dem fasziniert und gleichermaßen schockiert lauschenden Hörer die tragische Geschichte der Familie Schöning vor. Um die sechs CDs zu einem Hörvergnügen werden zu lassen, ist tunlichst darauf zu achten, am Anfang eines jeden Kapitels genau auf die genannten Orts- und Zeitangaben zu hören. Die Autorin hat nämlich beileibe keinen chronologisch stringenten Erzählstil an den Tag gelegt. Doch dem aufmerksamen Hörer wird sich peu à peu wie früher bei "Dalli-Klick" ein Bild entfalten; für die finale Auflösung hat sich Mechtild Borrmann schließlich einen kniffligen Mosaikstein aufgehoben.

Die Resonanz der Kritiker auf "Grenzgänger" ist überragend, und dies völlig zu Recht. Mit viel Fingerspitzengefühl hat die Autorin einige Schicksalsthemen der deutschen Nachkriegsgeschichte sehr intelligent zusammengeführt, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben und ohne die Darstellungen ausufern zu lassen. Mechtild Borrmann beherrscht die Kunst, nur wenig Zeit und Raum zu benötigen, um ihren Figuren Kontur zu verleihen. So mutiert "Grenzgänger" wie auch schon "Trümmerkind" trotz ähnlicher Machart zu einem Werk, das man nicht ruhen lassen, sondern begierig konsumieren möchte. Den Spannungsbogen hat sie in "Grenzgänger" mächtig optimiert, was dafür sorgt, dass einem die Geschichte der Henni Schöning nachhaltig im Gedächtnis erhalten bleiben wird.

Christoph Mahnel
19.11.2018

 
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Das Buch:

Mechtild Borrmann: Grenzgänger

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Sprecherin: Vera Teltz
Berlin: Argon Verlag 2018
Spielzeit: 420 Min., € 19,95
ISBN: 978-3-8398-1651-6

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