Hörbücher
Bleiben oder gehen?
Deutschland, 1933. Als 16-jähriges Mädchen verlässt Susanne Moder, genannt Sanna, nach dem Tod ihrer Mutter ihre Heimat und lebt fortan bei ihrer Tante Adelheid in Köln. In den kommenden drei Jahren erlebt sie dort den aufkommenden Nationalsozialismus und die damit verbundenen Veränderungen in der Gesellschaft. Als sie eines Tages mit ihrer Tante über Hitler spricht und darüber, wie sehr er bei einer Rede geschwitzt habe, denunziert die linientreue Tante ihre Nichte. Nach ihrem Verhör bei der Gestapo flüchtet Sanna nach Frankfurt zu ihrem Stiefbruder Algin, einem Schriftsteller. In Köln zurücklassen muss sie ihren Cousin Franz, in den sie sich verliebt hat.
In Frankfurt lernt Sanna durch ihren Bruder weitere Künstler und Schriftsteller sowie jüdische Ärzte kennen, denen allen eines gemein ist: Sie können ihren Beruf nicht mehr oder nur noch eingeschränkt ausüben. Die mittlerweile 19-jährige Sanna hofft, bald mit ihrem Liebsten, Franz, wieder vereint zu sein. Gemeinsam wollen sie einen Zigarettenladen aufmachen. Doch als Franz unerwartet vor ihrer Tür steht und ihr erzählt, dass er von einem Konkurrenten, ebenfalls ein Zigarettenhändler, denunziert worden sei, stellt sich den beiden Verliebten die Frage: bleiben oder gehen?
"Nach Mitternacht" ist der erste Exilroman der deutschen Schriftstellerin Irmgard Keun, die lange Jahre völlig unbedeutend war in der deutschen Literaturlandschaft. Als ihre Bücher von den Nazis auf den Index gesetzt wurden, entschloss sie sich 1936 zur Emigration. In Ostende traf sie auf Joseph Roth, verliebte sich in ihn und blieb bis kurz vor seinem Tod mit ihm in Ostende. 1940 ging sie nach Deutschland zurück und lebte bis 1945 in der Illegalität im Haus ihrer Eltern in Köln. Erst Ende der 1970er Jahre, kurz vor ihrem Tod, wurden ihre Werke von der Literaturwissenschaft wiederentdeckt.
Keuns Romanfiguren bestechen vor allem durch ihre anscheinende Naivität, wodurch die Schilderung des Alltags im nationalsozialistischen Deutschland nach absurder und grausamer klingt, als er es die Realität eh schon war. In "Nach Mitternacht" lässt sie die 19-jährige Sanna, ein recht naives Landei, das in die Großstadt kommt, dort mit Menschen aller Couleur zusammentrifft und sogar einem Auftritt Hitlers auf dem Frankfurter Opernplatz beiwohnt, als Erzählerin fungieren. Sanna staunt, lauscht und gibt das Gesehene und Gehörte in ihrer naiven Art wieder. Nicht selten kann man sich als Hörer, der ihren Schilderungen und Konversationen lauscht, dabei ein Schmunzeln oder Lachen nicht verkneifen. Sprachlich und erzähltechnisch ist dies eine Besonderheit, für die Keuns Exilromane - z.B. auch "Kinder aller Länder" oder "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" - bekannt sind.
Für den Rundfunk Berlin-Brandenburg hat Barbara Meerkötter "Nach Mitternacht" in ein Hörspiel umgesetzt. In zwei Teilen à 45 Minuten erzählt Sanna, nuanciert und treffend gesprochen von Lisa Wagner, ihre Geschichte. Rückblenden und Zeitsprünge fordern die Aufmerksamkeit des Zuhörers, geben dem Hörspiel aber auch Tempo und Spannung. Das erstklassige Sprecher-Ensemble trägt ebenfalls seinen Teil zum gelungenen Endprodukt bei. Thomas Wodianka, Britta Steffenhagen und Hans Peter Hallwachs, um nur einige Größen zu nennen, runden Lisa Wagners Leistung als naives, mal witziges, mal rotziges 19-jähriges Mädchen vom Lande ab.
Sabine Mahnel
12.02.2018