Bildbände

Stätte des Suchens

Es sind Bilder fürs Anschauen. Bilder, die wieder und wieder angeschaut werden wollen. Die Bilder, die der Fotograf Siegmar Brüggenthies vom Südwestkirchhof Stahnsdorf gemacht hat. Jawohl, gemacht! Der Fotograf hat nicht irgendeinen Friedhof fotografiert, nicht irgendwelche Fotos produziert.

Brüggenthies bedauert, den Südwestkirchhof am südlichen Stadtrand Berlins erst 2004 "kennengelernt" zu haben. Das versteht nur, wer den Begräbnisort seit Jahrzehnten kennt. Wer ihn einige Jahre nach dem Mauerbau entdeckte, als er in einem Winkel des Vergessens geraten war. Wer Schneisen schlug, um von Grab zu Grab zu kommen in der Wirrnis. Wer den Trampelpfaden in der Wildnis folgte, um an die Ruhestätte der Elisabeth von Ardenne (Effi Briest) zu gelangen, die ein langes, langes Leben hatte. Wer durch das Gestrüpp und Gesträuch auf den Weg zu Heinrich Zille kam, um sich wie ein Entdecker vorzukommen. So, genau so, muss der Mensch Siegmar Brüggenthies empfunden haben, als er sich mit der Kamera aufmachte, um den heute besser überschaubaren und begehbaren Südwestkirchhof zu besuchen. Eine Stätte, die noch immer etwas für willige Entdecker ist und somit fürs Entdecken. Der Fotograf ist von Natur aus ein lustvoller Entdecker. Wie für sich, entdeckt er, durch sich, den Friedhof auch für Kenner noch einmal.

Die Literatur über das einzigartige Areal des Südwestkirchhofs Stahnsdorf ist nicht üppig. Der Bildband "Der Welt abhanden gekommen" ist das Erfreulichste, was bisher publiziert wurde. Ein Künstler hat sich den Ort angeeignet, um ein Porträt möglich zu machen. Und, was für eins! Ein Porträt der Vergänglichkeit, das nichts Vages hat. Wie konkret und sichtbar das vermeintlich Vergängliche ist, das ist in jedem der von Brüggenthies angefertigten Bilder. Jawohl, angefertigt! Das Gefundene, Gesehene, Erkannte wird beziehungsreich präsentiert. So entzieht der Fotograf das Vergängliche der Vergangenheit und macht es der Gegenwart bewusst. Brüggenthies rettet das Vergängliche vor der Vergänglichkeit, das Vergessene vor dem Vergessen.

Er ist kein Zuspätgekommener. Er ist einer der spät kam, um mit seiner Aufmerksamkeit zum Aufbewahrer dessen zu werden, was der allgemeinen Achtsamkeit bisher entgangen ist. Das kann nur einem Menschen gelingen, der das Vergängliche nicht verdrängt, der die Faszination des Vergänglichen empfindet und der in der Faszination einen Ausdruck findet wie Brüggenthies in seinen Fotografien. Die sind, Bild für Bild, die eines Fotografen, der ein Ästhet ist. Ohne die ästhetische Auffassung des Fotografen, hätten die Bilder nicht werden können, was sie sind: Schöne Bilder. Fern jeglichen Postkartenpathos und des Kunstdruckkitschs. Obwohl keine Schwarz-Weiß-Aufnahmen, haben sie manchmal etwas von der klaren Struktur und der Striktheit des Schwarz-Weiß.

Der Verfall des Sichtbar-Vergänglichen hat bei Brüggenthies etwas Erbauliches, das ohne penetrante Belehrung ist. Die Aufnahmen so erfreut an- und hinzunehmen, hat mit der unaufdringlichen Art zu tun, mit der auf die Motive hingewiesen wird. Der Entdecker macht die Betrachter der Bilder zu Entdeckern. Wenn die Besitzer des Buches animiert werden, demnächst die Besucher des Südwestkirchhofs Stahnsdorf zu sein, so hat jede Seite des Buches ihren Sinn erfüllt. Einen besseren Begleiter als Brüggenthies kann kein Besucher haben. Von ihm kann man sich getrost über den Friedhof führen lassen, weil er kein Führender ist. Als Begleiter ist Brüggenthies weit unkonventioneller, als das die konventionellen Text-Beiträge der Publikation sind. Die liefern eine "theologische Betrachtung" und eine "kurze Geschichte des Südwestkirchhof". "Der Welt abhanden gekommen" ist ganz ein Buch des Fotografen Siegmar Brüggenthies, der der Welt erhält, was schnell abhanden kommen kann.

Bernd Heimberger
10.04.2012

 
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Das Buch:

Siegmar Brüggenthies: Der Welt abhanden gekommen. Der Südwestkirchhof Stahnsdorf

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Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2012
112 S., € 16,95
ISBN: 978-3-89812-882-7

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