Bildbände

Personen in Pose

Sven Marquardt ist einer aus der Generation, die kurz vor, kurz nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 geboren wurde. Mitte der siebziger Jahre tauchten die "Hineingeborenen", wie aus dem Nichts, in den Künstlerszenen der DDR auf, die nicht identisch waren mit der offiziellen Kunstszene der DDR. Nicht nur der Prenzlauer Berg war ein Zentrum der Kunstszene neben der Kunstszene. Nicht nur Dichter waren die Szene des Prenzlauer Bergs. Die Dichter drängten sich vor und wurden zum Synonym für den Prenzlauer Berg. Die Dichter wurden begleitet von Musikern, Malern, Theatermachern und auch Fotografen. Einer der erstaunlichsten und somit verblüffendsten der Fotografen hieß Sven Marquardt. Unter den Jungen war er, Jahrgang 1962, einer der Jüngsten. Er fotografierte nicht, was so beliebt war, das marode Stadtbild Ost-Berlins. Ihn interessierte auch nicht das ungeschönte Alltagsbild der DDR, zu dessen Chronisten einige der besten Fotografen wurden.

Sven Marquardt, der so grobschlächtig wirkt, liebt die Menschen, die Körperlichkeit des Menschen. Beim Betrachten seiner Bilder, ist im Betrachter stets zuerst die Frage: Was ist dem Porträtisten wichtig? Ist es die Individualität der Person oder die Pose der Person, die er inszeniert und dann fotografiert? Die gescheiteste Antwort gibt der gar nicht sehr aufwendige, doch intensive Bildband "Zukünftig vergangen", der die Auswahl von Arbeiten aus einem Vierteljahrhundert präsentiert. Das sieht nach einer Werkübersicht aus, ist es aber nicht. Marquardt, im Brotberuf einer der bekanntesten Türsteher Berlins, ist ein talentierter Fotografierer, der sein Thema hat: Der Mensch als Persönlichkeit in der Pose. Je länger die Fotos angeschaut werden, desto besser ist zu begreifen, dass jede Pose mehr als Pose ist. In den zugeordneten Posen und den dazugehörigen Requisiten versteckt sich der Mensch nicht. Menschen werden entdeckt. Durch den fotografierenden Entdecker Marquardt kommt zum Vorschein und so zum Ausdruck, was die porträtierte Person ist oder sein könnte. Es ist eine Gruppe von Menschen, die sich wieder und wieder der Linse des Fotografen auslieferten. Der Porträtist vertraut den Porträtierten wie die Porträtierten dem Porträtisten.

Die konzentrierte Auswahl der Arbeiten, also die Variationen der Abgebildeten, nützt der Konzentration der Betrachter. Das Sichöffnen der Person gegenüber dem Fotografen ist das Erlebnis, das die Fotografien von Sven Marquardt zu einem Ereignis macht. Das war so, das ist so. Es wurde Zeit, das wieder einmal zu sehen, also den Künstler wieder zu entdecken, der in den Fotografien seine Geschichten von der Begegnung mit Menschen erzählt. Alles, was Marquardt sehen will - sehen kann -, ist bereits in den Bildern des Vorjahrhunderts. Im Anfang ist alles angelegt. Sichtbare Geschlechtlichkeit ist immer der Geschlechtslosigkeit nah. Lebendigkeit ist nie ohne die Sterblichkeit zu sehen. In jeder schuldlosen Pose ist Schuld, die in den deutlichen wie undeutlichen, ernsten, skulpturalen Gesichtern ist. Der Körper hat bei Marquardt ein Gesicht, das Gesicht hat Körperlichkeit. Aus der wirklichen Körperwelt hat Sven Marquardt seine fotografische Wirklichkeit der Körperlichkeit gemacht. Eine Kunstwirklichkeit, die Kunst ist.

Bernd Heimberger
21.06.2010 

 
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Das Buch:

Sven Marquardt: Zukünftig vergangen. Fotografien 1984-2009

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Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2010
120 S., € 22,00
ISBN: 978-3-89812-723-3

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