Romane

Die Geschichte eines Fluchs: Eine deutsche Auswandererfamilie in Russland

Das vorliegende Werk schildert die Geschichte der Familie Gruber aus Elsass-Lothringen, die Anfang des 19. Jahrhunderts nach Russland auswandert, da sich dort schon ein Verwandter angesiedelt hat. Vor der Verschiffung auf der Donau wird sie von einer rätselhaften Frau mit einem Fluch beladen, der bis in die siebte Generation andauern wird. Das wiederum sind die Eltern des Autors, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Ein Schwerpunkt des Buches ist dann auch der verzweifelte Kampf der Mutter und ihrer noch vier kleinen Kinder um das nackte Überleben in der Zeit des Stalinismus und auch danach. Der Vater muss derweil Zwangsarbeit in einem Arbeitslager leisten.  

Der Roman ist keinesfalls streng chronologisch gehalten. Zwischen Prolog und Einleitung sowie Epilog befinden sich zehn Kapitel mit jeweils mehreren Abschnitten. Gleich zu Beginn zieht eine Parade russischer Soldaten 1941 in einer Siedlung im Kaukasus die Blicke des damals fünfjährigen Autors auf sich. Er ahnt noch nicht, was in der nächsten Zeit auf ihn und seine Familie zukommen wird. Dann erfolgt ein Sprung 50 Jahre später: Mittlerweile ein angesehener Mediziner, kommt der Verfasser mit einer alten Dame ins Gespräch und stellt Gemeinsamkeiten zwischen ihren beiden Vorfahren fest. Eine weitere Begegnung mit einem Patienten bringt das Gespräch auf diesen unheilvollen Fluch, mit dem alles seinen Anfang nahm.  

Bei dieser ersten Generation der Auswanderer Anfang des 19. Jahrhunderts hat man die Mühen und den Fleiß der Neuankömmlinge bildlich vor Augen, wie sie das Land fruchtbar machen und damit ihren Teil zum damaligen Wohlstand Russlands beitragen. Dann erfolgt ein größerer Zeitsprung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, weil die Quellenlage dieser Generationen recht spärlich ist.  

Kapitel 2 gibt einen interessanten Einblick in die Verhältnisse Russlands direkt nach Ende des Ersten Weltkriegs und in den Ausbruch der Revolution unter Lenin. Ab hier beginnt die systematische Vernichtung des Bauernstandes, von dem auch die deutschen Einwanderer betroffen sind. Diese Ausführungen tragen wesentlich zum besseren Verständnis der weiteren Handlung bei. Auch sonst erleichtern Jahreszahlen und Hinweise auf bekannte Ereignisse die zeitliche Orientierung.  

Aus dieser Zeit berichtet immer wieder die Mutter des Autors, auch über die Eltern von ihr und ihrem Mann. Man merkt schnell, mit welcher Aufmerksamkeit der damalige Junge all diese Geschichten förmlich aufgesogen hat, dass er sie heute noch so genau wiedergeben kann. Interessant auch der spätere Vergleich von drei so unterschiedlichen Personen aus dieser Zeit: dem Großvater des Autors, Zar Nikolaus II. und Lenin.

Als Folge des Zweiten Weltkriegs wird die Familie nach Kasachstan gebracht. Schon bald steht fest, dass sie nie wieder in ihre Heimat zurückkehren wird. Damit ist alles verloren. Der Vater, ein Lehrer, und weitere Männer deutscher Abstammung werden in die Arbeiterarmee gesteckt und müssen dort unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeiten verrichten. Auch die Frauen werden gezwungen, sogar im tiefsten Winter in Sibirien Bäume zu fällen, und sollen dabei ihre kleinen Kinder zurücklassen, was den sicheren Tod bedeuten würde. Hier zeigt sich, wie verbissen eine Mutter, besonders die des Autors, kämpfen kann. Das einzige Ziel heißt überleben. Und sie schafft es tatsächlich, ihre Kinder durchzubringen. Auch hier ist man sehr eng am Geschehen, wie es der Mutter, obwohl eigentlich unmöglich, immer wieder gelingt, sich Nahrung und Kleidung zu besorgen. Dafür lässt der Autor, wie auch im gesamten Buch, kein noch so kleines Detail aus. Doch erstaunlicherweise wirkt das zu keiner Zeit ermüdend.

Die Mutter schafft es, sich nach dem Krieg in einem größeren sibirischen Dorf ein kleines Häuschen zu kaufen und einer Arbeit als Näherin nachzugehen. Dort verbringt der Autor mit seinen Brüdern seine Schuljahre. Mit guten Leistungen kann der Autor tatsächlich ein Medizinstudium absolvieren und wird trotz diverser Widrigkeiten ein erfolgreicher Chirurg.

Leider muss er erkennen, dass sich die Lage der Deutschen in Russland auch zuzeiten der Perestroika und Glasnost nicht großartig ändert. Eine gewisse Verbitterung darüber lässt sich beim Autor nicht verleugnen. Das zeigen die vielen Gedankengänge, durch die man an seinem Seelenleben teilhaben kann. Immerhin kann er noch einmal das Dorf seiner Ahnen und den Verbannungsort seines Vaters sehen. Auch ein Besuch von anderen Verwandten in Kanada ist möglich. Schließlich entscheidet er sich, mit seiner eigenen Familie in das Land seiner Ahnen zurückzukehren. Aber auch das gestaltet sich schwieriger als gedacht.

Am Ende bleibt die Frage, ob der Fluch für die Verwandten in Russland geblieben ist oder ob seine Macht auch noch in Deutschland zu spüren sein wird.

Wer sich an dieses doch recht umfangreiche Werk heranwagt, den erwarten viele spannende Lesestunden eines mit viel Herzblut geschriebenen Buchs, das mehr als nur ein Andenken an die Vorfahren des Autors darstellt.

Andreas Berger
20.10.2014

 
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Das Buch:

Artur Grüner: Das letzte Geheimnis – Wenn die Hexe einmal die Wahrheit spricht

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Frankfurt: August von Goethe Literaturverlag 2014
839 S., € 28,80
ISBN-13: 978-3-8372-1438-3

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