Romane

Gespenster der Vergangenheit

Wie selbstverst?ndlich hat Hildwin bisher den vergangenheitss?chtigen Wiedergutmachungswahn seines Vaters mitgemacht ? bis zu dem Tag, als sich Maya das Leben nimmt. Hildwin beginnt, sein eigenes Leben in Frage zustellen: Wie konnte es dazu kommen, da? seine Tochter, die er so sehr liebte, die er glaubte, so gut zu kennen, ihrem Dasein eines j?hes Ende setzte? Weshalb nur hat sie sich ihm nicht anvertraut? Warum hat er nicht gemerkt, was mit ihr los war, was sie belastet hat?

Schuldgef?hle qu?len Hildwin. Durchdrungen von Selbstanklagen versucht er das Unverst?ndliche zu verstehen. Wer hat Schuld an Mayas Freitod? Und zugegebenerma?en ist Hildwin das Thema Schuld bestens bekannt ? es ist sein st?ndiger Begleiter.

Hildwins Vater identifiziert sich seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Schuldenlast der Deutschen. Er glaubt, da? es sein Schicksal und das seines Sohnes Hildwin ist, die Schuld der nationalsozialistischen Massenm?rder und Greuelt?ter zu tragen, sie zu b??en und dadurch die Schuldenlast des Gro?vaters, der aktiver SS-Mann war, indirekt abzutragen. Wie Sisyphos schleppt er die Felsbrocken in Form seiner Erinnerungen mit sich herum, w?lzt die Last vor sich her, in der Hoffnung, sie eines Tages zu ?berholen, sie hinter sich zur?ckzulassen. Aber lastet auf ihm, zwingt ihn immer die H?lfte der Wegstrecke, die er vorankommt, wieder zur?ck. Hildwins Art der Wiedergutmachung besteht darin, seine antifaschistische Einstellung bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu demonstrieren, bei Einweihungen von KZ-Gedenkst?tten Vortr?ge zu halten, in Schulen ?ber die Verbrechen der Nationalsozialisten zu referieren, die jungen Menschen an die Verbrecher zu erinnern, damit sie nicht in Vergessenheit geraten und sich wiederholen.

Der Wiedergutmachungszwang gipfelt darin, da? Hildwins Eltern ihn und Gotelinde, seine Frau, zu einer Adoption ?berreden und indirekt auch die Wahl der Kinder bestimmen ? sie sollen der von den Nazis als "minderwertig" bezeichneten Rasse angeh?ren. So werden zwei Asiatenkinder aufgenommen. Gotelinde empfindet die Wahl als Zwang, stimmt jedoch unter psychischem Druck zu.

Maya, das ?ltere der beiden Adoptivkinder, ist bereits acht Jahre alt, als sie adoptiert wird. Fr?h schon durchschaut sie die Gef?hle und Beweggr?nde der Erwachsenen. Maya glaubt, als Fremdk?rper die Familienatmosph?re zu belasten. Gotelinde, eine distanzierte Frau, l??t sich nicht von Emotionen leiten, sie verfolgt eine autorit?re Erziehung. Gotelindes Kritik, ihr st?ndiges N?rgeln, provozieren Konflikte, verst?rken das problematisches Verh?ltnis zwischen Mutter und Tochter. Mayas Widerstand gegen die Mutter w?chst.

Gleichzeitig bauen Hildwin und Maya eine ganz besondere Beziehung zueinander auf. Maya liebt ihren Vater mehr als ihre Mutter. Hildwin akzeptiert sie so wie sie ist, nimmt ihre Eigenarten an. Hildwin mu? sich eingestehen, da? er das M?dchen sehr liebte ? sp?ter als sie fast erwachsen war ? vielleicht sogar begehrte?

Dennoch, und diese Schuld qu?lt Hildwin ganz besonders, ist es ihm nicht gelungen, zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln. Hildwin bleibt tatenlos, will es nicht auf Konflikte ankommen lassen. Hildwins Mutlosigkeit, Schw?che und Feigheit hindern ihn daran, sich wirkungsvoll f?r Maya einzusetzen. Mayas Haltlosigkeit, ihr Suchen nach Vorbildern, auch nach religi?sen, sind die Folgen.

Ist also eine verst?ndnislose Umwelt die Antwort auf Mayas Selbstmord? Oder hat vielmehr der ?bersteigerte Wiedergutmachungswahn der Familie, dessen Instrument Maya ja selbst war, sie in den Tod getrieben?

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, verschafft sich Hildwin Eintritt in Mayas Welt und versucht, St?ck f?r St?ck die letzten Monate ihres Lebens zu rekonstruieren. W?hrend einer m?hevollen Spurensuche f?ngt etwas in Hildwin an zu rebellieren. Ihm gelingt es, sich seinen auferlegten Verpflichtungen zu widersetzen. Er lehnt sich gegen die Spielregeln des Vaters auf. Er war dazu bestimmt, Bu?e zu tun, Wiedergutmachung zu leisten, stellvertretend f?r die Schuldigen, zu denen auch sein Gro?vater z?hlte. Doch dazu ist er nicht mehr bereit. Er ist zwar am Ende, aber jedes Ende ist auch ein Anfang ...

Renate Dalaun zeigt sehr eindringlich, wie furchtbar es ist, wenn ein Mensch von Schuldgef?hlen geplagt wird. Schuld ? Schuldgef?hle, das sind die zentralen Themen ihres Buches. So beleuchtet sie im ersten Teil die Motive und Gr?nde, die dazu f?hren, da? Hildwin sich f?r unw?rdig und schlecht h?lt und weshalb er nie autonom und m?ndig sein konnte: Die in der Kindheit erworbenen moralischen Pr?gungen haben ihn f?r die Ideen seines Vaters manipulierbar werden lassen.

Im zweiten Teil freilich, hegt der Leser die heimliche Hoffnung, da? es Hildwin doch noch gelingen m?ge, sich von der ?bermacht des Vaters zu befreien, da? er es endlich schafft, er selbst zu sein. Vergeblich ? denn Hildwin dreht sich im Kreise, und es sieht so aus, als ob dieser winzige Hoffnungsschimmer im Nichts Verpufft. Bleibt Hildwin am Ende doch der Alte?

dmp
25.03.2002

 
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Das Buch:

Renate Dalaun: Sisyphos oder Wie tief reicht das Erinnern

CMS_IMGTITLE[1]

Frankfurt/M.: Fouqué Literaturverlag 2001
251 S.
ISBN: 3-8267-4979-0

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