Romane

Die wahre Bedeutung des Worts "Familienbande"

Eins steht fest: Der Protagonist des neuesten Romans der bekannten deutschen Autorin Ingrid Noll hat es nicht leicht. Der 20-jährige Max ist mit seinem Studium unzufrieden, sieht sich selbst als Versager und weiß nicht recht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Doch dies sind eigentlich noch seine geringsten Probleme, denn am dringendsten braucht Max Geld. Zum Glück gibt es da noch seinen Großvater, der häufig die Spendierhosen anhat. Seit dem Tod von Max´ Großmutter hat Willy Knobel stark abgebaut und ist auf die Unterstützung seiner Familie angewiesen, um sein Alltagsleben zu bewältigen. Zu seinem Enkel hat er am meisten Vertrauen, was sich zwar betont negativ auf Max´ Freizeit auswirkt, aber zum Ausgleich als äußerst lukrativ für seinen Geldbeutel erweist. Schließlich stürzt sein Großvater in der Wohnung und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Max wird siedend heiß bewusst, dass er hieran nicht eben unschuldig gewesen ist.

Der niedergestreckte Großvater erholt sich allerdings nicht so von der Operation wie erhofft und die Prognosen der Ärzte sind alles andere als positiv. Man schlägt die Möglichkeit vor, dass er nun im Haus von Max und seinen Eltern gepflegt werden soll. Und hierzu kommt es schließlich auch, wofür hauptsächlich Max verantwortlich ist. Sein Vater erweist sich jedoch aufgrund seines schlechten Verhältnisses zu seinem alten Herrn als wenig erpicht darauf, was neue Komplikationen mit sich bringt. Als Willy Knobel seinem Enkel die Vollmacht für sein Konto überträgt, bedeutet dies wohl, dass es für Max ein Leichtes sein wird, den Rest seiner Zahlungen pünktlich abzuliefern. Denn was könnte nun noch schiefgehen? Solange seinem Großvater nichts zustößt, versteht sich ...

Wer hier mutmaßt, dass eine solche Ausgangssituation den Stoff liefert, aus dem Familienintrigen sind, der liegt goldrichtig. Nicht nur Max, sondern so gut wie jedes Mitglied seiner Familie hat etwas zu verbergen und verfolgt im Hintergrund seine ganz eigenen Interessen. Ingrid Noll versteht es meisterhaft, dem Leser diese Tatsache nur Stück für Stück zu offenbaren. Sobald der Leser die ersten konkreten Hinweise erhält, woher Max´ Geldsorgen rühren, finden sich auch die ersten Andeutungen, dass auch seine Eltern insgeheim ihre ganz eigenen Probleme haben und sich - was ihren Charakter betrifft - als mindestens ebenso ambivalent erweisen wie er.

All dies wird von Noll in stets klarer, präziser Sprache voller spritziger Ironie dargeboten und mit zahlreichen irrwitzigen
Überraschungen und Wendungen gewürzt. Aufgrund der durchaus bedauernswerten Lage des Willy Knobel, der nun als Zankapfel herhalten muss, mag dem Leser zugestandenermaßen das Lachen auch oft im Halse stecken bleiben. Nolls geschicktes Spiel mit tragischen Handlungselementen erweist sich jedoch als elementarer Bestandteil des rabenschwarzen Humors, der "Ehrenwort" von der ersten bis zur letzten Seite prägt und dem Leser bereits früh signalisiert, dass hier keine alltägliche Leseerfahrung auf ihn wartet.

Ebenso fällt auf, dass sich für Max und Co. jede noch so kleine egoistische Tat letztendlich rächt und teils desaströse
Folgen mit sich zieht. Denn soviel soll verraten werden: Ingrid Noll wäre nicht Ingrid Noll, wenn im Verlauf der Geschichte der Sensemann nicht zumindest ein wenig Arbeit bekäme. Dazu bereitet es der erfolgreichsten deutschen Krimiautorin augenscheinlich geradezu diebisches Vergnügen, die scheinbare bürgerliche Familienidylle, die sich zu Beginn darbietet, Schritt für Schritt zu dekonstruieren, bis schließlich absolut nichts mehr davon übrig bleibt. Das Ergebnis ist ein Garant für turbulente, makabere Spannung, bis auch das letzte Familiengeheimnis gelüftet ist. Ein absolutes Muss für alle Liebhaber des schwarzen Humors sowie solche, die es werden wollen, und ein Leseerlebnis, das niemand so schnell vergessen wird - absolutes Ehrenwort!

Johannes Schaack
30.08.2010

 
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Das Buch:

Ingrid Noll: Ehrenwort

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Zürich: Diogenes Verlag 2010
336 S., € 21,90
ISBN: 978-3-257-06760-6

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