Romane

Fremd in der Familie

Binnen weniger Jahre hat sich Philippe Besson, Jahrgang 1967, in die Spitzenreihe der französischen Schriftsteller der Gegenwart geschrieben. Ihn deshalb einen großen Schriftsteller nennen? Ihn mit den Großen des vorigen Jahrhunderts vergleichen? Also mit einem Gide, einem Cocteau? Mit Beauvoir/Sartre oder Triolet/Aragon? Mit den Protogonisten des "Nouveau Roman"? Besser nicht! Schneller Ruhm ist nicht gleichzusetzen mit literarischer Bedeutung. Philippe Besson ist ein guter, bisweilen großer Unterhaltungsschriftsteller. Roman für Roman bestätigt er, wie kunstvoll eine Story konstruiert werden kann, damit sie nicht in den Abgründen der Trivialität verschwindet. Genau das könnte auch der Geschichte geschehen, die der Franzose in "Einen Augenblick allein" erzählt.

Vereinfachend zusammengefasst, ist es die Geschichte eines Mannes, der als "Mördervater von Foulmouth" in Verruf geraten ist. So eindeutig ist das vermeintlich Eindeutige bei Besson nicht. Der Vater ist nicht der Vater. Der Täter ist kein Täter. Der Mörder ist das Meer! Dass das so ist, ist nicht nur eine Sache der Auslegung. Alle Tatsachen könnten den Belasteten entlasten. Tun sie aber nicht! Ein Mensch kann sich auch moralisch als Mörder fühlen. Kann Schuld in sich spüren, ohne schuldig zu sein. Kann bereit sein, gefühlte Schuld zu büßen. Das geschieht in dem Roman, weil genau das einem Menschen geschieht, dem Familie immer Haft bedeutet. Die Isolierung beginnt im Elternhaus, setzt sich in der eigenen, als fremd empfundenen Familie fort. Nicht die hingenommene Haft ist die Gefangenschaft, es ist die Gebundenheit in der Familie. Sie nimmt dem vermeintlich Freien die Freiheit. Nicht nur im Gefängnis gewesen zu sein bedeutet, lebenslang ein Gefangener zu bleiben. Außer, es geschieht das Ungewöhnliche, das Schicksalhafte, das hilft, zu entdecken, wer man ist. Der geschilderte Fall ist der Fall eines Fremden in der Familie, eines Außenseiters in der Gesellschaft. Das so begreifen heißt, auch zu begreifen, dass das Anderssein anzuerkennen ist und mit ihm auszukommen. Das ist die Hoffnung eines scheinbar Hoffnungslosen in dem Roman. Hoffnung verkörpert für den schuldlos-schuldigen Ich-Erzähler der Zellengenosse Lucke. Von dem wird der Geächtete schließlich sagen: "Ich habe ihn erwartet".

Philippe Besson ist ein Erzähler, der nicht sämtliche Geschichten seiner Roman-Geschichte erzählt. In "Einen Augenblick allein" führt er an viele Geschichten heran, ohne sie auszuführen. Den Lesern ist die Möglichkeit gegeben, "weiterzuspinnen". Nicht nur, um die möglichen Geschichten zu entdecken, sondern sich in ihnen. Vorausgesetzt, es werden die sinnlich-erotischen Stimmungen des Schriftstellers geteilt. Über Frauen läßt er den Ich-Erzähler meditieren: "Ich habe die Gefahr gesehen, die sie in sich tragen, die Bedrohung, die sie manchmal darstellen. Ich habe gelernt, dass sie imstande sind, auf ihrem Weg alles zu verwüsten, wenn man sie nicht bremst." Wird so Frauenfeindlichkeit formuliert? Mitnichten! Unterschwellig schwelgt der Autor abermals in der Gefühlswelt der homoerotischen Wirklichkeit, die manches Geschehen im Roman bestimmt. Das macht den an sich dramatisch-tragischen Roman zu einem schön-sinnlichen Roman.

Bernd Heimberger
11.08.2008

 
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Das Buch:

Philippe Besson: Einen Augenblick allein. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann

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München: dtv 2008
176 S., € 12,90
ISBN: 978-3-423-24663-7

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