Romane

Eine Frau auf der Suche

Ein Apriltag in New York, eine Bibliothekarin streift ziellos durch die Stadt. Sie begegnet zahlreichen Männern. Da ist zum Beispiel ein Soldat, der seine Erfahrungen teilt und dem Zufall große Bedeutung beimisst; ein Polizist, der seine Bedenken äußert; oder ein Dichter, der ihre Leidenschaft teilt. Kurzum: Männer, wie aus der Phantasie entstiegen - der Dichter, der Astronaut, der Räuber, der Löwenbändiger … All diese Bekanntschaften hinterlassen Spuren, Erinnerungsstücke, Versprechen und zurück bleibt eine nachdenkliche Frau, die weiterzieht. Es sind Begegnungen wie aus einem Traum, Männer, die ihr Beachtung schenken, einfühlsam sind und auf sie eingehen, ihren Sehnsüchten und dem Wunsch nach körperlicher Intimität entspringen.

Was sie beobachtet, weckt Erinnerungen an ihre Urgroßmutter Annie oder "wie sie zum ersten Mal leise gelesen hat und in dem Moment ihren Verstand als Teil ihres Körpers begriff". Was sie fast alle gemeinsam haben, ist eine ungewöhnliche Vertrautheit, ein Mitteilungsbedürfnis und eine geheimnisvoll poetische Ausdrucksweise. In diesen Momenten findet sie etwas, das sie für immer verloren glaubte. Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Mut, die Spuren unmissverständlicher Gegenwart. Was muss sie tun, damit diese Gefühle nie wieder fliehen? Damit sie nicht verloren geht, wie die Menschen um sie herum, wie der Charakter dieser Stadt, die vom ganzen Geld der Welt für sie so still geworden ist, wie der Ehemann, der jeden Abend fragt: "Wo bist du gewesen?"

Literatur, von der einem ganz schwindelig wird - doch "Auf der Zunge" ist noch weitaus mehr; nämlich eine Lektüre, die bislang unentdeckte Sehnsüchte im Leser weckt. Jennifer Clement hat eine Sehnsuchtshymne geschrieben. Mit dieser beschwört sie das Aufbäumen einer Frau gegen den Verlust der Träume und der Leidenschaft. In sanft-lyrischen, in brutal-ehrlichen Bildern erschafft sie ein Denkmal für einen geliebten Ort, eine geliebte Zeit. Das hat größte Seltenheit im Bücherregal. Man verliert sich ab der ersten Seite in den Gefühlen und inneren Gesprächen der Protagonistin, glaubt in dieser eine Freundin fürs Leben gefunden zu haben. Zugleich fühlt man sich angenehm entschleunigt. Ein Buch wie das vorliegende ist in heutigen Zeiten wertvoller denn je.

Mit "Auf der Zunge" beweist Jennifer Clement, was für eine herausragende Menschenbeobachterin die Autorin ist. Sie hält nicht nur ihrer Protagonistin, sondern auch ihren Lesern den Spiegel vor, in dem sie psychologisch, aber auch philosophisch in die Tiefe geht. So wird die Lektüre zu einem Erlebnis für alle Sinne, außerdem zu etwas Lebensveränderndem. Absolut grandios!

Susann Fleischer 
23.05.2022

 
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Das Buch:

Jennifer Clement: Auf der Zunge. Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner

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Berlin: Suhrkamp Verlag 2022 143 S., € 20,00 ISBN: 978-3-518-42994-5

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