Romane

Eine der ungewöhnlicheren Lektüren dieses Jahres

"Politik, Europa, Gegenwart, Alltag, das kann einem ja nun keiner erzählen, dass das keine Auswirkungen hat", ruft die Erzählerin ihrer Freundin Constanze zu. Zusammen sind sie die proletarischen Prinzessinnen - "Prinzessinnen, wie sie nicht in jedem Buche stehen. Aber wartet nur, wir schreiben uns in die Bücher hinein". Zusammen wollen sie Widerstand leisten. Eine Revolte anzetteln. Die alten Märchen überschreiben. Denn etwas ist aus den Fugen geraten: Plötzlich drängen sich immer mehr Montage in die Woche. Da sind Riesen, die wie aus dem Schauermärchen in die Wirklichkeit schnellen. Da ist der Tod, der, eben noch erschöpft, immer mehr zum Akteur wird. Da ist ein unsichtbares Kind, das dafür plädiert, geboren zu werden. Da ist der schönste Roman der Welt in weißen Jeans. Höchste Zeit also, jedwede Ohnmacht zu überwinden.

Dies ist der Roman einer ungewöhnlichen Woche in Leipzig, in der auf Montag nicht mehr Dienstag folgt, alte Sicherheiten verloren gehen und neue Formen des solidarischen Sprechens und Handelns erprobt werden - in Übertreibung, Abschweifung, Torheit und Spiel. Es ist ein luzider Kommentar auf unsere Gegenwart, ein Plädoyer für Spaß, klugen Protest und das Ringen um Lebendigkeit - radikal subjektiv und hoch politisch. Heike Geißler setzt sich mit der Leipziger Gegenwart auseinander, mit den Montagsdemonstrationen auf dem Augustusplatz, mit Mietenteignungen, der gefährdeten Gesundheit ihrer geborenen und ungeborenen Kinder, mit Baustellen, Protesten, mit Zitaten und Querverweisen, dem Tod und Ende der DDR. Es ist der `stream of consciousness' einer sich ihrer Besessenheit bewussten, selbstkritischen Nachrichtenleserin.

Literatur, die alles andere als Mainstream ist - ein Buch wie Heike Geißlers "Die Woche" zu lesen, kommt einer überaus seltenen Offenbarung über unser aller Dasein gleich. Mehr noch: Es verändert Leben innerhalb von Stunden, aber dafür für immer. Kaum das vorliegende Werk aufgeschlagen, fühlt man sich ganz berauscht von der Story und von Geißlers schriftstellerischem Talent, leidet und fühlt mit den Protagonistinnen unmittelbar mit, schließt sie als Freundin ins Herz, wird für einen Nachmittag Teil ihres Dramas. Damit allerdings nicht genug: Hier zeigt sich die Poesie der deutschen Sprache in ihrer schönsten, betörendsten Form. Davon kann einem eigentlich nur ganz schwindelig werden. Man fühlt sich ab der ersten Seite, dem ersten Satz high wie von Drogen. Geißler kann schreiben, dass es einfach nur der Wahnsinn ist!

"Die Woche" ist definitiv kein Roman für eine Schnell-mal-zwischendurch-Lektüre, sondern eher einer, dessen Unterhaltungs- und auch Genusswert von Satz zu Satz steigt. Als Geschichtenerzählerin ist Heike Geißler eine Klasse für sich. Es ist echt beeindruckend, wie sie scheinbar locker-leicht mit der deutschen Sprache spielt, mit dieser ihre Experimente treibt und so dem Leser ein Vergnügen bereitet, das alles ist, aber ganz sicher nicht nullachtfünfzehn. Ohne jeden Zweifel: ein Geniestreich ohnegleichen unter den Neuerscheinungen 2022!

Susann Fleischer 
16.05.2022

 
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Das Buch:

Heike Geißler: Die Woche

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Berlin: Suhrkamp Verlag 2022 316 S., € 24,00 ISBN: 978-3-518-43053-8

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