Romane

Ein Leseerlebnis mit absolutem "Wow!"-Effekt, einfach nur umwerfend, gar zum Niederknien gut

Britisch-Malaya in den 1930ern. Zwischen Dschungel und Kolonialvillen lauert eine tödliche Gefahr. Die schlagfertige, ehrgeizige Ji Lin steckt in ihrer Schneiderlehre fest und verdingt sich nebenball als Tanzhallenmädchen, eine Art Amüsierdame, um die Mahjongg-Spielschulden ihrer Mutter zu begleichen. Dabei träumt das Mädchen eigentlich von einem Leben als Lehrerin oder Krankenschwester, aber ihr Stiefvater verfolgt andere Pläne mit ihr. Wenige Stunden in der Woche flüchtet Ji Lin zu ihren Freundinnen in die Tanzhalle. Bis einer ihrer Tanzpartner ihr versehentlich ein grausames Souvenir hinterlässt: einen abgetrennten Finger. Endlich Ji Lin bekommt das Abenteuer, nach dem sie sich schon so lange sehnt. Das einzige Problem: Ihr "Zwillingsbruder", der ihr auf Schritt und Tritt folgt.

Der elfjährige, chinesische Waisenjunge Ren ("Ordnung", auch "Menschlichkeit/Nächstenliebe") ist ebenfalls auf geheimer Mission: Er soll den vor Jahren bei einem Unfall verlorenen Finger seines Herrn finden und ihn mit dessen Körper begraben. Ren hat 49 Tage Zeit, oder die Seele seines Meisters wird keine Ruhe finden und für immer die Erde bereisen. Um seinen Auftrag zu erfüllen, lässt Ren sich als Houseboy bei dem Chirurgen William anstellen. Der war einst ein Freund von Rens mittlerweile verstorbenem Herrn. Und nur er weiß, wo sich dessen Finger befindet. Doch darf er von Rens Aufgabe nichts erfahren. Zuviel hängt von seinem Gelingen ab. Auch ahnt Ren, dass von William Gefahr für ihn ausgeht. William könnte sein Verhängnis werden. Ji Lin hingegen ist seine letzte Hoffnung.

Während die Tage unaufhaltsam vergehen, verwüstet eine Reihe ungeklärter Todesfälle das Viertel. Man flüstert sich zu, dass ein menschenfressender Tiger durch den Dschungel am Rand der Stadt streife. Ji Lins und Rens zunehmend gefährliche Pfade kreuzen sich durch üppige Plantagen, Lagerräume in Krankenhäusern und gespenstische Traumlandschaften ...

Ein Lektürehighlight von bestechender Qualität - "Nachttiger" ist ein Juwel, das alles andere zu überstrahlen vermag. Yangsze Choo entführt ihre Leser in die Welt der chinesischen Mythologie und des Aberglaubens und in die Geschichte Malaysias mit ihren glamourösen Dinnerpartys der Kolonialherren und den verruchten Tanzhallen der einheimischen Bevölkerung. Kaum aufgeschlagen, verliert man sich mit allen Sinnen in dieser Lektüre und vergisst über diese die Welt vollkommen um sich herum. Man glaubt sich wie in einem Traum gefangen, und möchte nicht, dass dieser jemals endet. Die Wahl-US-Amerikanerin schreibt Geschichten, die das größte Glück im Leben des Lesers sind. Diese überwältigen einen ab der ersten Seite. Mit ihrem Schreibkönnen macht Choo einen so schwindelig wie nichts anders.

Autorinnen mit dem Ausnahmetalent einer Yangsze Choo gibt es nur ganz wenige weltweit. Ihre Erzählkunst verschlägt einem den Atem, außerdem die Sprache. Ihre Romane bedeuten Literatur auf höchstem Niveau, sind eine Verführung für alle Sinne. Im Bücherregal findet man keinen betörend-schöneres Lesegenuss als "Nachttiger". Hier erfährt man Unterhaltung von solcher Genialität, aber auch unvergleichlichen Poesie, dass es einen glatt umhaut. Absolut grandios, und das bis zum letzten Satz!

Susann Fleischer 
14.10.2019

 
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Das Buch:

Yangsze Choo: Nachttiger. Aus dem Amerikanischen von Heike Reissig, Stefanie Schäfer

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München: Wunderraum 2019 576 S., € 22,00 ISBN: 978-3-336-54807-1

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