Krimis & Thriller
Ein Wiedersehen mit der Vergangenheit
Wer hat die Bilder nicht noch vor Augen? Der kleine Danny Torrance, wie er auf seinem Dreirad über die Flure des Hotels "Overlook" rast, oder Jack Nicholson, dessen Fratze dem menschlichen Wahnsinn ein Gesicht gab. Die Rede ist von "Shining", Stephen Kings Roman aus dem Jahre 1977 bzw. dessen grandiose Verfilmung von Stanley Kubrick drei Jahre später. Der gewalttätige und alkoholkranke Jack Torrance war mit seiner Frau und Sohn Jack als Hausmeister in ein abgeschiedenes Hotel in den Rocky Mountains gegangen. Mit dem Wintereinbruch nahm das Kammerspiel schließlich seinen schrecklichen Verlauf. Zentrales Thema dieses frühen Kings war das "Shining" des kleinen Danny, die übersinnliche Fähigkeit, mit deren Hilfe er die Gedanken anderer Menschen lesen oder zukünftige Ereignisse vorhersehen konnte.
Dieser kleine Danny Torrance ist nun groß geworden. Nachdem er einst den Winter im Hotel "Overlook" nur mit knapper Not überlebt hatte, wurde er von seinem geistigen Schöpfer über mehr als dreieinhalb Jahrzehnte auf Eis gelegt, bis er nun als Hauptdarsteller in Kings neuestem Roman "Doctor Sleep" wieder die Bühne betritt. Danny arbeitet in einem Hospiz und begleitet Sterbende in ihren letzten Tagen. Dank seines "Shinings" gelingt es ihm, den Menschen sehr einfühlsam über die Schwelle des Todes hinweg zu helfen. Dies bringt ihm den Beinamen "Doctor Sleep" ein und macht ihn auch als Erwachsenen zu einem liebenswerten Charakter.
Doch Danny ist nicht der einzige, der mit dem "Shining" gesegnet ist. In einem parallelen Erzählstrang lernt der Leser Abra kennen. Das elfjährige Mädchen ist mit einer noch deutlich ausgeprägteren Gabe des Paranormalen ausgestattet, als Danny sie je zu eigen war. Diese Fähigkeiten bedeuten für Abra eine große Macht, machen sie jedoch zum Objekt der Begierde einer Sekte namens der "Wahre Knoten". Dieser Ansammlung von schrägen Charakteren ist Unsterblichkeit gegeben, wenn sie sich des "Shinings" bemächtigen können. Abras letzter Lebenshauch ist das dringend benötigte Elixir für die Sektenmitglieder, das sie Abra quer durchs Land verfolgen lässt. Schließlich obliegt es Danny, der Sekte den Kampf anzusagen und Abra zu retten.
Stephen King hätte als Arbeitnehmer in Deutschland im vergangenen Jahr den Eintritt ins Rentenalter gefeiert. Doch der Ausnahmeschriftsteller scheint noch lange nicht altersmüde zu sein. Seit Mitte der Siebziger Jahre veröffentlicht er in der Regel ein bis zwei Bücher pro Jahr und fast alle werden zu Bestsellern. Angefangen hatte alles im Jahre 1973 mit "Carrie"; "Es" lässt heute noch das Blut in den Adern seiner Leser gefrieren, genauso wie der düstere "Friedhof der Kuscheltiere". Unter dem Pseudonym Richard Bachman schrieb Stephen King "Menschenjagd", die Vorlage zu "Running Man", das einst als grandiose Fiktion daherkam, heute aber wie eine Beschreibung der neuesten Spielshow bei ProSieben erscheint. Und dann war da noch "Shining", dessen Verfilmung sich mit Stanley Kubrick ein Großmeister seines Fachs annahm, womit dieser den keimenden Ruhm Kings noch weiter befeuerte.
"Doctor Sleep" ist ein großartiges Buch, doch kommt es ganz anders daher als einst "Shining". Dieses Empfinden mag vor allem daran liegen, dass nicht nur der Autor 36 Jahre älter geworden ist, sondern auch seine Leser entsprechend gealtert und womöglich weiser geworden sind. Stand bei "Shining" noch der blanke Horror im Vordergrund und läuft jedem Leser alleine beim Gedanken daran auch heute noch eine Gänsehaut über den Rücken, so hat King seitdem mehrere Entwicklungsschritte genommen und es ist ihm mit "Doctor Sleep" ein wahrlich guter Thriller gelungen, der ohne die ganz großen Elemente des Grauens auskommt, stattdessen mit einem gelungen Spannungsbogen überzeugt und von einem Autor geschrieben zu sein scheint, der sein schrifstellerisches Handwerk in Perfektion beherrscht.
Die Konstellation mit "Shining" und seinem Sequel "Doctor Sleep", das mit dem Abstand von fast einem halben Menschenleben folgt, ist höchst ungewöhnlich. Zwar hätte "Shining" nicht unbedingt "Doctor Sleep" gebraucht, doch viele Menschen, denen das Schicksal von Danny Torrance am Herzen lag, werden heilfroh sein, dass Stephen King sie mit gebotenem Abstand doch noch darüber in Kenntnis gesetzt hat, welchen Verlauf die Kindheit des bedauernswerten Jungen genommen hat, der im Hotel "Overlook" den wahnsinnigen Launen seines Vaters ausgesetzt war. Mit "Doctor Sleep" hat Stephen King auch einen Bogen über sein bisheriges Lebenswerk gespannt. Man darf gespannt sein, was sich dieser Magier seines Fachs noch alles einfallen lässt, um bereits vor seinem Tode unsterblich zu werden.
Christoph Mahnel
25.11.2013