Kinder- & Jugendb?cherr

Auf der Suche nach dem Glück

Der kleine Neuner lebt auf der Straße. Er verließ die Wohnung, wo er lange allein mit seiner Mutter gelebt hatte, zunächst nur tagsüber, um Mutters "Neuem" aus dem Weg zu gehen. Der ist ein brutaler Kerl, der sich gewalttätig zwischen den sensiblen Neunjährigen und seine Mutter stellt, damit diese ihn nicht "verzärtelt". Nachts stand das Fenster jedoch für Neuner offen, sodass er in der Küche Essen und in seinem Bett noch eine Spur von Geborgenheit finden konnte. Doch eines Abends muss der Junge beobachten, wie seine Mutter von ihrem betrunkenen Freund niedergeschlagen wird, der daraufhin einfach die Wohnung verlässt. Zum ersten Mal in der Verantwortung für sich und die Mutter, rettet Neuner ihr das Leben indem er die Sanitäter informiert. Er selbst aber flieht in Schock und Angst nun völlig auf die Straße, wo er sich bald dem Obdachlosen Kosmos anschließt. Ihm vertraut er seinen Traum an ans Meer zu gehen, wo die Sonne scheint und Möwen schreiend über die Wellen segeln, die mit weißen Schaumkronen an den Strand klatschen. Kosmos, der "stark" ist, sich auskennt und "alles weiß", nimmt sich des kleinen Neuner an und teilt mit ihm den Traum von der Reise ans Meer. Er ist nicht wie die anderen Obdachlosen, die rote Ilse, Glatzenpeer, Mundharmonikajonny oder Hein Schoop, die sich schon lange in ihr Schicksal gefügt haben und die leeren Gemäuer der Stadt und das Flussufer als ihre Heimat und ihr Revier betrachten.

An einem ihrer "Glückstage" gelangen Neuner und Kosmos auf der Suche nach einer richtigen Mahlzeit in die Kneipe "Caracas". Neuner, mit seiner kindlichen Offenheit und rührenden Hilflosigkeit, und Kosmos, mit seinem sprachgewandten Witz gelingt es tatsächlich, die "Königin von Caracas", Besitzerin des Lokals und zu Reichtum gekommene Halbweltdame, zu überzeugen, ihnen ihre gemeinsame Reise ans Meer zu finanzieren. Als Gegenleistung müssen sie ihr allerdings das einzig Wertvolle überlassen, das in ihrem Besitz ist – Neuners Schutzengel. Mit genug Geld in der Tasche soll nun die Reise beginnen.

Aber die Geschichte des kleinen Neuner geht natürlich nicht so einfach "gut aus", denn bis zu einem gewissen Grad schildert Jutta Richter die Realität auf der Straße und die Schwächen der Menschen, die dort leben. Doch "Hinter dem Bahnhof liegt das Meer" ist vor allem ein sehr schönes Buch für Kinder, in dem auch die Erwachsenen noch an die Notwendigkeit von Schutzengeln glauben, in dem Freundschaft und Mitgefühl siegen. Und so gehen in gewisser Weise auch die Träume von Neuner und seinen Freunden von der Straße in Erfüllung.
Jutta Richter ist es gelungen ein Kinderbuch zu schreiben, in dem sie mit einer schlichten, kindgerechten Sprache eine Geschichte über Ängste, Träume und Freundschaft erzählt. Sie schafft es, einen Eindruck davon zu geben, wie "ihre" Obdachlosen in der ihnen feindlich gegenüber stehenden Welt der Besitzenden existieren, und lässt ihnen dabei ihre Menschlichkeit und Individualität. Sie kann aber auch mit wenigen treffenden Bildern die Atmosphäre eines Sonnenuntergangs am Meer erschaffen, ohne dabei ins Kitschige abzugleiten. Überhaupt ist es diese Gradwanderung zwischen Realität und Märchen, zwischen soviel Erwachsenenwelt wie nötig und soviel Kinderträumen wie möglich, die den Reiz dieses Buches ausmacht.

mls
06.06.2002

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Jutta Richter: Hinter dem Bahnhof liegt das Meer

CMS_IMGTITLE[1]

München u.a.: Carl Hanser Verlag 2001
95 S.
ISBN: 3-446-20042-8

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.