Erzählbände & Kurzprosa

Geschichten von Krankheit und Abhängigkeit

Der Autor weiß genau, wovon er schreibt und erzählt: Im Vorwort bekennt er, selbst Patient in der Abteilung für Suchtkranke in der Klinik gewesen zu sein, von der er berichtet. Die jeweiligen Einzelschicksale mögen authentisch oder erfunden sein – jedes einzelne macht betroffen und ist beklemmend, oft auch verstörend.

Joachim Giehm berichtet schonungslos von Menschen, die krank sind – und das erkannt haben. Denn ohne diese Erkenntnis ist eine „Heilung“ wohl kaum möglich. Und dass sie nicht immer gelingt – auch das erfährt der Leser des Buches. Was bei vielen als „Trost“ bei Einsamkeit, gegen Frust oder aus Nichtbewältigung des Alltags begann, endete bei den meisten als persönliche Katastrophe. Nicht jeder hatte einen Menschen an der Seite, der ihm half, viele verloren Arbeit, Familie, Freunde.

Die ganz alltägliche Dramatik der einzelnen Lebensläufe ist es wohl, die so betroffen macht. Und die Reaktionen, besser die Nicht-Reaktionen des persönlichen oder beruflichen Umfeldes machen ebenfalls nachdenklich: Wer weiß schon, ob sein Nachbar nicht auch trinkt? Gerade diese Möglichkeit, selbst Mit-Betroffener zu sein, gibt beim Lesen oft ein beklemmendes Gefühl.

Der Wille, diese Abhängigkeit zum Alkohol zu beenden, und die Erkenntnis, dass man Hilfe dringend nötig hat, ist wohl für jeden Alkohol-Abhängigen der erste Schritt in ein neues Leben. Aber es folgen noch viele andere, mühsame, kleine, erfolglose, schwierige; es gibt Rückfälle.

Mit viel Sensibilität werden liebevoll die einzelnen Porträts gezeichnet, es gibt kein Verurteilen beim Rückfall, kein Beurteilen der Gründe, wie es zu dieser Abhängigkeit kommen konnte. Da ist Sven, der seinen Beruf als Tierstimmenimitator nur ausüben kann, wenn er trinkt; oder Fritz, der einen jähen beruflichen Absturz als Dirigent erlebte, als er wegen Trunkenheit am Theater auffiel und der dennoch eine zweite Chance bekam. Oder Karl und Karla, deren Geschichte an das Plenzdorfsche Kult-Paar Paul und Paula erinnert. Es entstehen Freundschaften und erste, behutsame Liebesbeziehungen. Nicht immer gibt es ein Happy End.

Interessant ist auch die Sicht auf die Therapeuten der Klinik: Sind sie wirklich immer so unbeteiligt und „nüchtern“, wie es den Anschein hat? Wohin geht ein solcher Therapeut am Abend mit all den Schicksalen, wie verarbeitet er das Gehörte?

Joachim Giehm erzählt vom Alltag in der Klinik und vom Leben außerhalb – dem Leben vor und nach der Klinik. Es ist immer der Alltag mit der Krankheit ...

ker
19.05.2007

 
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Das Buch:

Joachim Giehm: Hurra, wir sind trocken. 15 Geschichten rund um den Alkohol

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Frankfurt/M.: August von Goethe Literaturverlag 2006
128 S.
ISBN: 978-3-86548-639-4

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