Erzählbände & Kurzprosa

Selbstzeugnisse eines Wanderers zwischen Orient und Okzident

Der neueste Streich des türkischen Autors Orhan Pamuk, "Der Koffer meines Vaters", ist ein Buch, das heterogene Dinge wie Reflexionen über die Kunst und das Schreiben, Episoden aus seinem Leben, Alltagserzählungen sowie Betrachtungen zu Schriftstellern und Politik sowie ein langes Interview enthält. Etwas hilflos wird diese Fülle von verschiedenartigsten Texten auf dem Buchrücken als "Essayband" bezeichnet, sehr passend hingegen als "ganzer Kosmos". Dieser erschließt sich dem Leser aus einer besonderen Perspektive, denn Pamuk ist aufgrund seiner Herkunft, (literarischen) Interessen und Reisen jemand, der sowohl in Orient als auch Okzident zu Hause ist, gleichzeitig aber stets irgendwie Außenseiter bleibt, der jedoch gerade wegen der eingenommenen Distanz in der Lage ist, das Gesehene treffend zu beschreiben.

Das Buch ist besonderes für all jene gedacht, die sich für Literatur im Allgemeinen und die Romane Pamuks im Speziellen interessieren. Fachkundig schreibt der Literaturnobelpreisträger über Autoren, die ihn beeinflusst haben - sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Kapitel über Thomas Bernhard -, stellt die eigene Arbeitsweise dar und weiß Spannendes über seine Werke und (seine Sicht auf) die Literatur zu berichten. Dabei benutzt er etwa Wolfgang Isers Begriff vom "impliziten Leser" als Basis für aufschlussreiche Selbstbeschreibungen als "impliziter Autor". Literaturwissenschaftler werden zu Recht einwenden, dass es sich dabei nicht um die Erfindung von Orhan Pamuk handelt, sondern dass dieser Terminus schon früher vom US-Amerikaner Wayne Clayton Booth geprägt wurde. Letztlich ändert das allerdings wenig. Wichtiger ist, dass Orhan Pamuk in der Lage ist, auch komplexe literaturwissenschaftliche Konstrukte anschaulich und unterhaltsam darzustellen.

"Der Koffer meines Vaters" enthält zwar nicht jenes berühmte Interview, welches dazu führte, dass der Schriftsteller in seinem Heimatland wegen "Beleidigung des Türkentums" angeklagt worden war, weil er in diesem den türkischen Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg thematisierte. Dennoch finden sich einige brisante Texte, in denen er etwa der Türkei Mängel in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte vorwirft und den Irakkrieg kritisiert. Pamuks kurze Alltagserzählungen sind mal ergreifend wie "Eine Möwe stirbt am Ufer", mal zum Schmunzeln wie "Poetische Gerechtigkeit", teils beinahe poetisch ("Beim Aufstehen in stiller Nacht"). "Untermalt" werden die kurzen Texte von einigen Zeichnungen des Autors, der ursprünglich Maler werden wollte.

"Der Koffer meines Vaters" erweist sich als ein sehr abwechslungsreiches und spannendes Buch, das gerade wegen des umfangreichen Registers zum Schmökern und Blättern einlädt, aber besonders jene ansprechen wird, die sich mit dem Werk des derzeit wohl bedeutendsten türkischen Schriftstellers beschäftigen (wollen).

Ingo Gatzer
29.03.2010

 
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Das Buch:

Orhan Pamuk: Der Koffer meines Vaters. Aus dem Leben eines Schriftstellers. Aus dem Türkischen von Ingrid Iren und Gerhard Meier

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München: Carl Hanser Verlag 2010
343 S., € 24,90
ISBN: 978-3-446-23492-5

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