Erzählbände & Kurzprosa

Graefekiez – Zukunft ohne Gesicht?

Zwanzig Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Deutschland hat sich gründlich verändert. Globalisierung, Hartz IV und eine rücksichtslose Avantgarde des Geldes drängen immer mehr Menschen in soziale Armut und Isolation. Zurückbleiben entwurzelte, zerstörte Existenzen ohne Lebensmut, dafür aber voller Angst. Immer stärker prägen Gleichgültigkeit, Vereinzelung und Egoismus das zwischenmenschliche Klima.

Nirgends wird diese fatale Entwicklung so deutlich, wie im Mikrokosmos des Graefekiez´, eines kleinen Stadtviertels im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Über Jahrzehnte hinweg war der Kiez den Menschen Heimat und Zuhause. Hier waren sie füreinander da, hier fühlten sie sich wohl – auch unter schwierigen Bedingungen.

Der Autor nimmt seine Leser mit auf eine Reise durch die jüngste Vergangenheit und Gegenwart dieses urberliner Stadtviertels. Mike Ries, gebürtig aus Lübeck und seit Jahren Wahlberliner, zeigt am Beispiel des Graefekiez-Viertels die Auswirkungen eines Phänomens, das sich Gentrifizierung nennt und eine direkte Folge des staatlich geförderten Egoismus, der Grenzenlosigkeit und Maßlosigkeit unserer Zeit ist.

Hintergründe

Der Begriff "Gentrifizierung" (auch "Yuppisierung") bezeichnet die von der Politik befürwortete und von den Medien als positive Entwicklung gerühmte Aufwertung und Umgestaltung eines Stadtteils, in deren Folge sich auch die Bevölkerungsstruktur verändert. Die angestammten Einwohner können die steigenden Mieten nicht mehr zahlen und werden verdrängt - wie im Graefekiez.

Angelockt von dessen Charme und seinen niedrigen Mieten drängt seit Jahren eine neue Generation in das Viertel am Landwehrkanal: junge Leute, kreativ, effektiv, karriereorientiert - und felsenfest von sich selbst überzeugt. Immobilienhaie haben den Trend der Zeit erkannt und krempeln den Kiez entsprechend den Bedürfnissen der neuen Bewohner um. Preiswerter, sozialer Wohnraum wird vernichtet. In den Hüllen der kernsanierten Häuser entstehen Eigentumswohnungen und teure Appartements.

Die "Eingeborenen", die dem Kiez sein Gesicht gaben und sein Herz schlagen ließen - sie werden immer weniger.

"dry im Graefekiez"

Marie ist die unangefochtene Hausverwalterin eines typisch berlinerischen Mietwohnhauses am Landwehrkanal. Sie wohnt mietfrei und lebt von den Erträgen eines kleinen Ladengeschäftes im Hochparterre. Die Mieter sucht Marie selbst aus - und manche sammelt sie einfach auf!

Und dann sind da noch Czack und Jellinek, ehemalige Saufkumpane, der erste ein Trinker, der andere ein trockener Alkoholiker, der in letzter Sekunde die Kurve gekriegt hat und nun gleich zwei Selbsthilfegruppen besucht. Marie war es, die sich um Hilfe für Jellinek gekümmert hat.

Auch Johannes ist seit vielen Jahren Alkoholiker. An ihm jedoch perlen alle Hilfsangebote wie Regentropfen ab. Ist er womöglich das lebende Sinnbild des sich verändernden Graefekiez´? Besoffen bis zur Halskrause findet Johannes 20 Jahre nach der Wende keine Kneipe mehr, in der er den Rest der Nacht durchzechen kann. Im Gedanken noch immer an den Biertischen der Vergangenheit wankt er zur Admiralsbrücke, ein paar Flaschen "Becks" im Plastikbeutel.

Die Admiralsbrücke, Wahrzeichen des Graefekiez´ - Endstation eines Lebens, von dem nichts bleibt als ein namenloser Stein.

Außer Johannes haben es alle geschafft, die "Trockenen" - irgendwie. Hat der Fortschritt gesiegt?

Mike Ries redet Klartext, mal eigenwillig, mal deftig-derb, aber stets ehrlich. Sein Stil beeindruckt und lässt auch den Außenstehenden, der noch nie in Kreuzberg war, am Leben im Kiez teilhaben, lässt ihn verstehen und mitfühlen. Unübersehbar ist das Bemühen, das Lebensgefühl des Graefekiez´ in Wort und Bild für die Nachwelt zu bewahren. Wer das schmale Büchlein gelesen hat, wird das Viertel in Kreuzberg mit anderen Augen sehen als jeder zufällige Besucher.

Mario Lichtenheldt
01.02.2010

 
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Das Buch:

Mike Ries: Graefekiez. dry im graefekiez eine Erzählung

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Norderstedt: Books on Demand 2009
84 S., € 10,00
ISBN: 978-3-8391-0132-2

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