Erzählbände & Kurzprosa

Charles Lewinskys "Zehnundeine Nacht": Ein fantastischer Geschichtenreigen

"Der Sultan wollte wissen, wie die Geschichte weiterging, und beschloss deshalb, Scheherazade noch einen Tag länger am Leben zu lassen." - so oder ähnlich verhält es sich auch in Charles Lewinskys neuem Roman "Zehnundeine Nacht".

Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht macht Lewinsky zum Ausgangspunkt seiner Erzählung, wobei sie dort eine erhebliche Umdeutung erfahren: Aus dem romantischen Palast ist ein heruntergekommenes Hotel geworden, aus dem Sultan ein ordinärer Ganove und aus Scheherazade eine alternde Prostituierte. Nur die Grundsituation ist die gleiche geblieben: Sie erzählt um ihr Leben.

Die Handlung spielt sich, wie schon der Titel vermuten lässt, in elf Nächten ab. Eine müde gewordene Prostituierte residiert im abgehalfterten Edelhotel "Palace", wo sie Nacht für Nacht von ihrem einzigen Kunden besucht wird. Einem Kiezganoven, der sich selbst "König" nennt und sie seine "Prinzessin". Der eigentliche Zweck seiner regelmäßigen Besuche scheint längst nicht mehr im Gewerbe der Prostituierten zu suchen zu sein. Dieser Kunde kommt um sich von ihr Geschichten erzählen zu lassen. Um ihn bei Laune zu halten, lässt die moderne Scheherazade sich immer wieder neue ihrer spannenden Geschichten einfallen.

Beim Erdenken dieser pointenreichen Erzählungen hat Charles Lewinsky seiner Phantasie freien Lauf gelassen. Der 1946 geborene Schweizer, der nicht nur als Autor, sondern auch als Dramaturg, Regisseur und Redakteur arbeitet, hat sich nach seinem letzten Roman, der mehrfach ausgezeichneten großen jüdischen Familiensaga "Melnitz", einem wesentlich schmalerem Buch mit zahlreichen Erzählungen gewidmet. Hier stellt er einmal mehr unter Beweis, dass er ein begnadeter Erzähler ist und beim schmökern seiner Geschichten muss man sich wirklich die Frage stellen, wie ihm so etwas bloß einfällt. Mit den Worten "Es war einmal ein Mann..." beginnt eine jede der elf Geschichten, welche die Prinzessin ihrem Kunden erzählt, wobei Inhalt und Ton jedoch ein jedes Mal variieren. Mehrere der Geschichten neigen zur Groteske, wie beispielsweise die, in der ein U-Bahn-Selbstmörder von einem Mann gerade noch gerettet wird. Woraus der Selbstmörder den Schluss zieht, dass dieser nun für ihn verantwortlich sei. Der Gerettete geht zum Retter nach Hause, lässt sich zum Essen einladen, zieht bei ihm ein, macht sich sogar seine Frau zu Eigen, denn der Ehemann und junge Vater ist sehr beschäftigt. Bis er schließlich seinerseits entlassen wird, auszieht und sich umbringen will.

Eine besonders schöne Erzählung ist die von einem russischen Immigranten in New York, der zu Beginn als Fremdenführer auf dem Hudson-River arbeitet, wobei er sich die wunderbarsten Geschichten ausdenkt. Da er ein guter Erzähler ist, wird er reich und kauft sich unter anderem die Schiffslinie. Als er schließlich alt ist, meint er blind zu sein, doch eigentlich möchte er die Welt nur nicht mehr sehen. Sein einziger Wunsch ist es noch einmal in sein Heimatland Russland zurückzukehren. Lewynsky arrangiert dies auf phantasievolle Art: Der Sohn des alten Herren lässt ihn auf einem eigenen Schiff den Hudson rauf- und runterfahren, im Glauben sich auf dem Weg nach Russland zu befinden. Als ihm nach geraumer Zeit die Ankunft verkündet wird, lächelt der Alte selig und stirbt.

Lewinsky zeigt sich als souveräner Beherrscher verschiedenster literarischer Formen und Muster, so wechselt er von der Variante des traditionellen Einwandererepos, welche einen historischen Akzent ins Spiel bringt, gekonnt zum gegenteiligen Science-Fiction-Zitat: Als ein Mann eines Morgens aufwacht, beginnt seine Frau bei seinem Anblick zu schreien. Er fühlt sich wie immer, aber niemand anderes erkennt ihn. Auch die Chipkarte, die alle Daten über ihn enthält, kann ihn nicht identifizieren und an seinem Platz im Büro sitzt eine ihm fremde Frau. Genau wie der Kiezkönig tappt man als Leser lange im Ungewissen bis die Prinzessin schließlich klärt, was es mit dem grauen Wagen, der dem Mann den ganzen Tag gefolgt ist, auf sich hat.

Äußerst facettenreich ist also die Palette der Erzählungen, wobei ihnen aber eines gemeinsam ist: Sie alle sind gekonnt konstruiert und bauen mit überraschenden, oft komischen Wendungen viel Spannung auf. In ihren charakteristischen kleinen Dialogen macht Lewinsky die Prinzessin und ihren Zuhörer greifbar lebendig. Wunderbar ist auch, wie der etwas primitive König die Handlung jedes Mal aufs Neue zu erahnen meint und von den plötzlichen Veränderungen derselben dann in die Irre geführt wird. Dennoch bremst kein unnötiges Wort das mitreißende Tempo.

Beachtlich raffiniert geht Lewinsky in seinem neuen Buch vor – seine Geschichten sind lebensnah, witzig sowie schadenfroh, immer aber auch ein wenig traurig und melancholisch. Ihnen allen liegt etwas fantastisches, skurriles, absurdes zu Grunde. Zugleich sind sie aber auch lehrreich und im umfassenden Sinne moralische Geschichten. Leitgedanke all der Geschichten der modernen Scheherazade könnte die Frage der Identität unter Verarbeitung der Thematiken sein, was ein Menschenleben ausmacht und weshalb die Erfindung oftmals realer als die Wirklichkeit scheint. Dieses bleibt jedoch eine Frage der Interpretation. Tiefsinnig sind die Erzählungen aber alle Mal.

Mit seiner Sammlung aus schrägen, raffinierten und fantastischen Erzählungen sorgt Charles Lewinsky für glanzvolle Überraschungen in der Gegenwartsliteratur. Man wird süchtig nach diesem packendem und faszinierendem Lesevergnügen  – schade nur, dass der Autor nicht die Ausdauer seines Vorbildes hatte.

Katrin Slehta
24.11.2008

 
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Das Buch:

Charles Lewinsky: Zehnundeine Nacht

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München: Nagel und Kimche 2008
190 S., € 17,90
ISBN: 978-3-312-00419-5

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