Briefliteratur & Tagebuch

Brüder im Geiste

Wer war das Gesicht der Weißen Rose? Wer das Gesicht des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus? Wer? War's nicht Sophie Scholl? Ein Gesicht, das in Ost- wie Westdeutschland akzeptiert war als Gesicht des Antifaschismus. Auf Sophie Scholl hatten sich die beiden deutschen Gesellschaften stillschweigend "geeinigt". Geschwister-Scholl-Straßen gab's in der BRD wie in der DDR. Geschwister Scholl ist gesagt! Wer waren die Geschwister? Ach ja, da war auch der Bruder von Sophie, der Hans Scholl. Und sein Gesicht? Wer erinnert sich? Im Erinnern wird die Erinnerung schwach. Sie wird blass bis zur Unkenntlichkeit für die nach 1989 geborene Generation.

Die Weiße Rose waren wahrlich nicht nur Sophie und Hans Scholl. Wenn auf die Aktivisten der Gruppe genauer geachtet würde, müssten sofort andere Beteiligte in den Blick kommen. Zum Beispiel Schurik, wie der Deutsch-Russe Alexander Schmorell (1917-1943) von den Freunden meist genannt wurde. Oder der Bayer Christoph Probst (1919-1943), der für jeden der Christel war. Wenn von Freundschaften in der Weißen Rose gesprochen werden kann, dann von der geschwisterlichen Freundschaft zwischen Schurik und Christel. Ihre Freundschaft begann im besten Jugendalter. Sie hatte etwas (Ver-)Bindendes, Bestärkendes im aktiven Antifaschismus. Wie der möglich wurde, welcher Art er war, das ist in einem voluminösen Band zusammengefasst: Eines der vielen Dokumente zur Weißen Rose. Eines, das monolithisch aufragt. Nicht nur des Umfangs wegen.

Der Band, der gesammelte Briefe von Alexander Schmorell und Christoph Probst publiziert, wurde von der in der Sache versierten Christiane Moll herausgegeben und aufs Sorgfältigste aufbereitet. Das bedeutet, dass der Briefband ein Buch mehrerer Bücher ist. Die Tatsache erschwert die Entscheidung: Was ist zuerst zu lesen? Es ist kein Fehler, sich zuerst an die Briefe der beiden jungen Männer zu halten. Die Briefe sind das Eigentliche. Sind sie das? Ja, und nochmals ja, denn sie sind die persönlichsten Äußerungen zweier Menschen, die ins Erwachsenenleben hineinwuchsen, das frühzeitig endete. Was von Unvollendeten erwarten? Besser: Gar nichts erwarten! Schon gar nicht gebildete Demokraten, bewusste Politiker, absichtsvolle Antifaschisten. Die Postillen von Schmorell und Probst sind persönliche, privat bleibende Briefe.

Es sind vor allem Liebesbriefe, die Schmorell an die Schwester von Probst schrieb. Es sind rührende, berührende Familienbriefe, wie sie Christel an die Familie adressierte. Alles in allem Äußerungen, die kaum Reaktionen auf den faschistischen Alltag, den von Deutschland begonnenen, Europa ins Elend zerrenden Weltkrieg sind. Es sind auch keine Briefe, die der Freund an den Freund richtete. Die "Gesammelten Briefe" sind, in des Wortes Sinne, die gesammelten, erhalten gebliebenen Briefe. Nur falsche Erwartungen machen die Sammlung zu einer geringen Sammlung. Wer Sinn für das Menschliche hat, bereit ist, sich in die Situation gebildeter, sich bildender junger Männer versetzen zu lassen, wird empfänglich sein für die Privatpost. Wer die nicht nur flüchtig liest, wird einiges über persönliche Entwicklungen von Heranwachsenden erfahren und die Briefe mit innerer Anteilnahme lesen.

Wem das Private nicht genügt, liest das "zweite Buch" des Buches, das heißt: die ausführlichen Anmerkungen, die die Briefe ergänzen, erweitern und das historische Umfeld deutlich machen. Die sachlichen Anmerkungen dokumentarisieren die Brief-Dokumente. Die Erläuterungen sind derart intensiv, dass nicht selten die Vermutung aufkommt, erst sie rechtfertigen den Abdruck der Korrespondenzen, die ohne das korrespondierende Gegenstück sind. Die nötigen wie nützlichen Anmerkungen hemmen jedoch den Lesefluss der Originalbriefe.

Der Band beginnt mit einer 250-seitigen "Biographischen Einführung". Einer Doppelbiographie zu Alexander Schmorell und Christoph Probst, weil die eine Lebensgeschichte nicht ohne die andere zu sehen ist. Wer den Anfang mit dem Biographischen macht, wird um die Unmittelbarkeit gebracht, die die Briefe haben, wenn sie zuerst und separat gelesen werden. Das persönliche Urteil über die Personen wird durch die Biographie beeinflusst. Ob das immer gut ist? Sicher nicht! Die Einführung nimmt wesentliche, für die historische Betrachtung wichtige Briefstellen vorweg. Nur am Historischen interessierte Leser könnten sich mit dem biographischen Abriss begnügen, da die Darstellung zu Schmorell und Probst deren Geschick sehr differenziert präsentiert. Zweifel am Denken und Tun der Beiden können nicht die Sympathie für sie mindern. Die wächst und wächst.

Manchmal ist der Gedanke da, es wäre schön, Brüder wie Alexander Schmorell und Christoph Probst zu haben. Ob's ein Trost ist, was der Schwiegervater von Christoph Probst nach dessen Hinrichtung sagte, dass Christel "an der richtigen Front gefallen" ist? Gewiss doch, wem das Trost ist, wenn ein Mensch für die Menschlichkeit "fällt".

Bernd Heimberger
25.07.2011

 
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Das Buch:

Christiane Moll (Hg.): Alexander Schmorell, Christoph Probst: Gesammelte Briefe

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Berlin: Lukas Verlag 2011
944 S., € 34,80
ISBN: 978-3-86732-065-8

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