Briefliteratur & Tagebuch

Korrespondenzen einer Kameradschaft

Der Schmerz hat Gabriele Gérard nicht "zerfetzt", wie sie sagt. Die Trauer hat sie nicht stumm gemacht, wie uns pastorale Weisheit immer wieder weismachen will. Gabriele Gérard kennt den inneren Schrei des Schmerzes. Nichts zerfetzte sie, weil sie als Trauernde nicht in Stummheit erstarrte. In den Stunden bitterster Bedrängung und Bedrohung schrieb Gabriele Gérard, die Mutter, Briefe an Florian, ihren Sohn. Briefe die der Sohn nie lesen wird. Noch keine 24 Jahre, starb Florian im fernen Dublin.

Sein Tod ist tatsächlich ein unerwarteter Tod gewesen. Sein Tod ist tatsächlich unfassbar. Nicht nur für die Mutter. Sie formuliert den unfassbaren Verlust und so auch die besondere Beziehung, die Mutter und Sohn hatten. Nachvollziehbar wird das Besondere der Beziehung vor allem durch Briefe, die Florian während der fast vier Jahre schrieb, die er in Irland lebte. Seine Briefe sind die eines erwartungsvollen, engagierten, empfindsamen jungen Menschen, der die Energien und Fähigkeiten hat, für behinderte Menschen da zu sein. Formuliert Florian "Ich bin sehr stolz auf mich", so ist das ohne Befremden zu lesen.

Die Korrespondenzen der Mutter an den, mit dem Verstorbenen, ihre ebenfalls in das Buch "Florian, geb. 1976" aufgenommenen Aufzeichnungen von der Geburt des jungen, die postalischen Erlebnis- und Gefühlsberichte des Sohnes, sind die Korrespondenzen einer Kameradschaft. Das heißt, einer entwickelten, entwickelbaren Freundschaft zwischen Mutter und Sohn, die durchaus nicht das Selbstverständliche, Allgemeinübliche ist. Begreiflich, weshalb der Schmerz der Trennung, der kein Getrenntsein zulässt, Gabriele Gérard zu zerfetzen droht. Die Verlassene, die nicht von ihrem Sohn lassen will, kann, muß, fühlt sich mit jeder Faser Florian verpflichtet. "Schreiben", notiert sie, "ist wohl mein Versuch, Ordnung in mir zu schaffen." Richtig? Richtig! Ordnung schaffen verlangt von der Mutter, sich zu stabilisieren. (Sprechen wir nicht über Selbsttherapie, die das Schreiben ist). Ordnung schaffen verlangt, sich zu orientieren. Die Mutter gibt dem Sohn das Versprechen, "nicht an Schmerz und Trauer zu zerbrechen".

Nicht zu zerbrechen bedeutet, sich selbst Zukunft zuzubilligen. So weit mit sich, für sich, gekommen, weiß Gérard, was sie will: "Dich unvergessen machen, Deinem Leben eine Fortsetzung geben - durch mich."

Florian Gérard hat großes Glück mit seiner Mutter. Sie hat ihm nicht nur, wie man sagt, das Leben geschenkt. Sie garantiert ihm das Weiterleben. Wann kann das eine Mutter für ihr Kind tun? Mit dem Buch "Florian, geb. 1976" ist Gabriele Gérard eine lebensbejahende Leistung gelungen, die Lebenshilfe für jeden ist. Die Geschichte der berührenden, untrennbaren Mutter-Sohn-Beziehung ist ein Denkmal der Menschlichkeit. Das mit Tränen in den Augen zu sehen, bedeutet nicht, ohne Freude zu sein.

Bernd Heimberger 
03.09.2005

 
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Das Buch:

Gabriele Gérard: Florian, geb. 1976. Die Trauer bleibt

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Berlin: Transit 2004
223 S., € 18,80
ISBN: 3-8874-7192-X

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