Briefliteratur & Tagebuch

Jede Sorte Schmerz

Der PC hätte blendend zu der Person gepasst, die Brigitte Reimann war. Der PC hätte ihr rasantes Leben rationeller gemacht und ihre Ratio reguliert. Die Schriftstellerin verfügte über eine emotionale Energie, die sie emsiger und engagierter machte als die meisten Kollegen in der DDR. Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit bestimmten Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger des vorigen Jahrhunderts den besonderen Status der 1933 geborenen ostdeutschen Schriftstellerin. Als Junge Autorin war sie tatsächlich eine junge Autorin. Und sie war eine gefragte, dekorierte, auch privilegierte Autorin. Brigitte Reimann hat sich Annehmlichkeiten ebenso gefallen lassen wie offizielle Auszeichnungen. Dennoch war ihr Leben kein angenehmes, gefallsüchtiges Leben.

Brigitte Reimann hat gelitten, gelitten, gelitten. Nicht nur, als die Kinderlähmung ihren Körper beschädigte. Nicht erst, als der nicht zu überwindende Krebs ihr die abschließenden Lebensjahre verbitterte. Nicht nur, wenn die gesellschaftliche Realität der DDR, wieder und wieder, Zweifel säte. (So gern sich Reimann auch, wieder und wieder, an die Schultern des Landes lehnte wie an die eines Mannes. Obwohl sie, ihrem Wesen nach, eine unabänderliche Solistin war.) Nicht zuletzt litt Brigitte Reimann an ihrem Schreiben. Nichts war wesentlicher in ihrem Sein als das Schreiben. Während eines Jahrzehnts hat sie sich, wider jeglicher Widrigkeiten, die Seiten des dennoch unvollendet gebliebenen Romans "Franziska Linkerhand"  abgerungen. 1974, ein Jahr nach ihrem Tode veröffentlicht, begründete der Roman den nachhaltigen Ruhm der Schriftstellerin. "Franziska Linkerhand" war der tatsächlichen DDR näher als jeder andere Text der Autorin. Der Roman ist der einer reifenden Erzählerin.

Mit dem DDR-Roman hat Brigitte Reimann die DDR überlebt. Vielen Schriftstellern des zeitweiligen Landes ist das nicht gelungen. Die Hoch-Zeit der Brigitte Reimann begann, als die DDR von der Landkarte radiert war. Den Tagebüchern der Epikerin folgten die Briefbände. Mit "Jede Sorte Glück" sind nun fünf Briefbände da. Neben der zweibändigen Tagebuch-Edition ist die Ausgabe der ausgewählten Briefe an die Eltern, Elisabeth und Willi Reimann, der beachtlichste aller Briefbände. Derart privat, derart persönlich konnte die Schriftstellerin nur in den Schriftstücken nach Hause sein.

Das Elternhaus verließ sie, bereits in der zweiten Ehe, endgültig 1960. In Hoyerswerda probierte sie die "Ankunft im Alltag", wie der sprichwörtlich werdende Titel einer 1961 erschienenen Erzählung lautete. Brigitte Reimann kam bei den Leuten an, bei denen sie auch als Autorin ankommen wollte. Letztendlich fand sie in Hoyerswerda nicht den gewünschten Halt. "Aber zu Hause werde ich mich hier nie fühlen", sagt sie bereits im Augenblick der Ankunft. Und sie wird sagen, "die Stadt hängt mir zum Halse raus". Schließlich nennt sie Hoyerswerda "Eine Geißel Gottes". So leicht - auch leichtfertig - sich Brigitte Reimann ihren Launen hingibt, leichtsinnig sind ihre Urteile nicht. Nicht in der Bejahung, nicht in der Verneinung der Wirklichkeit, die ihr mit Verständnis und Unverständnis begegnet, die ihr verständlich und unverständlich bleibt.

Es muss genau auf das geachtet werden, was Brigitte Reimann wann und wie zur Gesellschaft äußert, der sie gewogen sein will. In den Briefen nach Burg kochte die ganze DDR der Sechziger hoch und über. Diese Dauer-Mangel-DDR, die eine ständige Herausforderung für die nie an Alternativen scheiternden Bürger war. Diese Dauer-Ärgernisse mit den Funktionären und der Bürokratie. Die wollte Reimann dauerhaft beiseite schaffen, um dabei zu scheitern wie der Hase beim Wettlauf mit dem Igel. Brigitte Reimann war kein Mensch der Öffentlichkeit, der sich von den öffentlichen Meinungen sprachlos machen ließ. Ihre unverhohlene, umgangssprachliche Diktion machte sie zur Beschützerin für Viele. Was nicht ausschloss, dass sie selbst oft genug eine Schutzlose war. In den Briefen an die Eltern sind die schnell wachsenden und wechselnden Stimmungen der Schriftstellerin, der Frau, die ständig mit ihrem "Körper zu kämpfen hat".

In dem Band lernen die Leser eine Kämpferin kennen. Als die ist sie voller Wehr und Wankelmut. Sie ist stets im Widerstand gegen faule Kompromisse im Beruflichen. Sie kann sich nicht, hoppladihopp, von körperlichen Schmerzen täuschen lassen oder sich über sie hinwegsetzen. Die Autorin nimmt für sich in Anspruch, über Schmerz jeder Sorte zu sprechen. Das macht die Episteln an die Eltern für die Leser zu einem spürbaren Ereignis. Zu einem geistigen, seelischen, körperlichen Ereignis ohne Unterlass. Wer Brigitte Reimann nie gesehen und gehört hat, nimmt in "Jeder Sorte Glück" einen Menschen wahr, der empfindsam-rege reagierte wie wenige Menschen. Das ist das Glück, das die Leser des "Unglücksbuches" haben, in dem Vokabeln wie "Jammerbrief", "geheult" nicht selten sind.

Die Postsendungen der Schriftstellerin sind die einer Person, die eine untilgbare, unerfüllte - unerfüllbare! - Sehnsucht nach Heimat prägte. Es sind Selbstzeugnisse einer Frau, die sich, mit heiterem wie ernstem Sinn, eine Unke nannte. Mit Ernst und Heiterkeit war sie eine bekennende Sozialistin und als die eine kaum zu erschütternde Idealistin. Im Öffentlichen wie Privaten. Ohne den idealistischen Optimismus, der dann und wann in einen optimistischen Pessimismus abdriftete, hätte Brigitte Reimann in ihrem schnell-kurzen Leben nicht so kurz-schnell viel leisten können. Gut, dass kein PC Brigitte Reimanns starken Mitteilungsdrang stützte und unterstützte. Welche Mail wäre der Nachwelt geblieben? Die Briefe, die Brigitte Reimann den Eltern schickte, sind nicht nur die Zettel einer Zeit. Sie sind aufbewahrenswerte Zeichen eines Menschen für Menschen, die sich Gedanken über ihre Zukunft machen.

Bernd Heimberger
12.01.2009

 
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Das Buch:

Brigitte Reimann: Jede Sorte von Glück: Briefe an die Eltern

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Berlin: Aufbau Verlag 2008
459 S., € 24,95
ISBN: 978-3-351-03247-0

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