Autobiographie

Vom Garten Eden hinab in die Hölle

Als Szmuel Piwnik am 1. September 1926 im polnischen Będzin das Licht der Welt erblickte, konnte wohl noch niemand erahnen, welches Schicksal dieser Mann im Einzelnen sowie seine jüdischen Mitmenschen in ihrer Gesamtheit erleiden sollten. An seinem dreizehnten Geburtstag überfiel Hitlers Wehrmacht sein Heimatland Polen, der Zweite Weltkrieg nahm seinen Anfang und im Leben dieses Jungen war nichts mehr, wie es zuvor war. Doch markierte die Vertreibung aus seinem Garten Eden, wie er den Ort seiner Kindheit bezeichnete, nur den Beginn einer Kette von unglaublichem Leiden, aber auch von unglaublichem Glück, mit dem der heranwachsende junge Mann, der sich später Sam Pivnik nennen sollte, viele Male dem sicheren Tod ein Schnäppchen schlagen konnte und sechs Jahre des Horrors überlebte.

Sam Pivnik hat nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben in England begonnen und viele Jahrzehnte lang geschwiegen. Zu sehr lasteten die Erinnerungen auf ihm, als dass er sie hätte formulieren und zu Papier bringen können. Doch nun im Spätherbst seines Lebens ist es ihm gelungen, seine Geschichte für die Nachwelt zu erhalten. "Der letzte Überlebende" lautet der Titel des vorliegenden Buches, das bereits bei seinem Erscheinen im englischen Original vor fünf Jahren für Furore sorgte. Mit der Personalisierung des jüdischen Leidens, mit der Konzentration des Holocaust auf ein einzelnes Schicksal, auf das des Sam Pivnik wird die Unglaublichkeit der Geschehnisse vor ziemlich genau einem Dreivierteljahrhundert für jeden Menschen ganz besonders greifbar.

Pivniks Leben im Garten Eden von Będzin befand sich ab Kriegsbeginn in einer Abwärtsspirale ohne Boden, beginnend mit der Vertreibung aus dem Haus der Familie in das Ghetto auf dem Kamionka. Es folgte nach wenigen Monaten die Deportation der Familie ins KZ Auschwitz-Birkenau, wo seine Eltern und fünf seiner Geschwister sofort nach der Ankunft in den Gaskammern den Tod fanden. Sam als Jugendlicher in der Blüte seines Lebens war scheinbar unendlich resistent gegen die unmenschlichen Gräueltaten der Nazis, so dass er das Hauptlager tatsächlich lebend verlassen konnte, um im KZ Fürstengrube, einem Außenlager von Auschwitz-Birkenau, weiter um sein Leben zu kämpfen. Pivnik hatte sehr schnell gelernt, wie er sich verhalten musste, um nicht aufzufallen und in das Visier der blutrünstigen und sadistischen SS-Männer zu gelangen.

Hätte sich ein Filmregisseur oder Buchautor die Geschichte Sam Pivniks ausgedacht, wäre er mit dieser wohl durch sämtliche Instanzen gefallen, da man sich kaum eine unglaubwürdigere Szenerie hätte ausmalen können. Denn Pivnik überlebte nicht nur Auschwitz, sondern Anfang 1945, als die Alliierten vor den Toren von Auschwitz standen, auch noch den aberwitzigen Todesmarsch der KZ-Häftlinge, der Pivnik bis nach Ostholstein führte. Dort gelangte er schließlich auf die MS Cap Arcona, ein Flüchtlingsschiff, das fatalerweise am 3. Mai 1945 mit ca. 5.000 Passagieren, zu größten Teilen KZ-Häftlingen, im Hafen von Neustadt durch die britische Luftwaffe bombardiert wurde und in Flammen aufging. Nur ein paar Hundert Passagiere überlebten, natürlich auch Sam Pivnik, der mit einem ganz besonderen Überlebensgen ausgestattet zu sein schien.

"Der letzte Überlebende" ist ein Buch, das dringend geschrieben werden musste, um die Unmenschlichkeit des Hitler-Regimes für die Nachwelt festzuhalten, zumal es sich bei Sam Pivnik um einen der allerletzten Überlebenden, um einen der letzten noch lebenden Zeitzeugen handelt. Für den schockierten Leser ist das vorliegende Buch dennoch eine harte Kost, da es einem die abscheulichen Schandtaten von Hitlers willigen Vollstreckern so plastisch vor Augen führt, dass man das Buch von Zeit zu Zeit ablegen muss, um durchatmen und das Gelesene verdauen zu können. Allmählich wird einem als Leser dabei klar, warum Pivnik so lange gebraucht hat, um seine Erinnerungen zu Papier bringen zu können. Es erscheint beinahe unvorstellbar, wie man ein Leben nach Auschwitz überhaupt weiterleben konnte, im Wissen darüber, dass - bis auf den älteren Bruder Nathan, den Sam kurz nach Kriegsende wieder in seine Arme schließen konnte - allen Familienmitglieder beim Gang über die Rampe in Auschwitz der Weg nach links in Richtung der tödlichen Gaskammern gewiesen wurde. Selten lässt sich eine so klare Leseempfehlung für eine Autobiographie aussprechen wie für die des Sam Pivnik.

Christoph Mahnel
18.04.2017

 
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Das Buch:

Sam Pivnik: Der letzte Überlebende. Aus dem Englischen von Ulrike Strerath-Bolz

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Darmstadt: Theiss Verlag 2017
296 S., € 19,95
ISBN: 978-3-8062-3478-7

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