Autobiographie
Berlin wird evakuiert
Werner Niegisch bezeichnet seine schriftlichen Darlegungen in "Kriegserlebnisse eines Jungen" als Bericht, Tatsachenbericht. Damit erhebt er nicht den Anspruch, in literarischer Form sich zu äußern. Dennoch bringt er sich als Subjekt mit unverwechselbaren Erlebnissen ein und beschränkt sich nicht auf mehr oder weniger objektive Berichterstattung. Die Sprache ist einfach und klar, will keinen literarischen Anspruch erheben, aber trotzdem: Das Vorliegende ist anschaulich, plastisch, nachvollziehbar und beeindruckend geschrieben. Man wird als Leser der Dinge und Vorgänge teilhaftig, fühlt sich mitten im Geschehen, in den Irrungen und Wirrungen Nazi-Deutschlands, den Schrecknissen und Entbehrungen im Zweiten Weltkrieg, den der Autor als Junge in Berlin und vielerorts auf dem Lande aus Sicherheitsgründen in naher und auch ferner Umgebung verbrachte, als die Bombardierung zur Evakuierung zwang und die Rote Armee bald zu hören war.
Dem Leser wird der besondere Lebensweg eines Einzelnen in seinem Kindes- und Jugendalter vermittelt, doch dieser trägt bisweilen zugleich Züge des Allgemeinen, Charakteristischen der damals jungen Generation. Freilich hatte der Autor bei allen Risiken, die er auf sich nahm, seinen Ausbildungs- und Lebensweg zu gestalten, glückliche Umstände - eher die Ausnahme als die Regel: Wohnhaft im sowjetischen Sektor Berlins besuchte er die Waldoberschule in Berlin-Charlottenburg - Abitur 1950. Freunde und Verwandte im Westteil der Stadt. Flucht per Flugzeug mit Westberliner Personalausweis, Studium des Bauingenieurwesen in Stuttgart, Diplom in Wien. Und dennoch wird oder bleibt das Geschriebene nicht Teil einer "Familienchronik", um es der Tochter "aufzuheben", sondern wird lesenswert für viele Menschen, für Jung und Alt, weil es auf spezifische Weise Erleben, Erkennen und Werten zu fördern vermag - der Aufarbeitung von Geschichte dient.
Dr. Peter Posse
19.08.2013
Die Lesung im Deutschen Literaturfernsehen finden Sie hier.