Autobiographie

Lebenserinnerungen zwischen Medizin und Musik

"Meine Memoiren" - der Titel deutet bereits auf den individuellen Charakter des vorliegenden Werkes hin und erhebt somit gar nicht erst den Anspruch auf Universalität oder Generalisierung, wenngleich das Buch äußerst geschichtsträchtig ist und die persönlichen Ereignisse nicht lediglich mit dem historischen Geschehen verknüpft werden, sondern ohne diese gar nicht erst denkbar wären.

Positiv fällt dabei auf - "positiv" deshalb, weil die persönlichen Erinnerungen einem öffentlichen Lesepublikum dienlich sein und ihm gefallen sollen, gemäß der horazischen Formel des "prodesse et delectare" -, dass die "Memoiren" keineswegs autotherapeutischer oder exzessiv melancholischer Natur sind und insofern ein authentisches zeitgeschichtliches, gesellschaftspolitisches und sozialkritisches Bild aus der Perspektive eines "echten" Zeitgenossen widerspiegeln.

Auch verkörpert das vorliegende Werk kein Streben nach Absolution; es ist weder Rechtfertigung noch Entschuldigung, auch keine Verherrlichung der guten alten Zeit in wehmütig-nostalgischer Manier, selbst wenn der Autor von der "wunderschönen, alten, deutschen Hauptstadt" spricht und diese Stadt in einem lyrischen Anflug gar personifiziert und adressiert: "Du schönes Berlin, in der Tat bist du die Stadt, in welcher man Deutschland kennenlernt, und alle sollten dich immer wieder besuchen, gerade wegen der Mauer, gerade wegen der kleinen tschechischen Maschinenpistolen in der Hand verhetzter sächsischer Knaben" und den "inneren Kern" des Berliners subtil zu charakterisieren versteht: "Durch und durch politisch wie der Berliner einerseits ist, hat er einen sehr feinen Instinkt für das Symbolhafte in der Politik und in der Geschichte seiner Stadt."

Nichtsdestotrotz nimmt Peter Lücker stets eine sozial- sowie selbstkritische Haltung ein, berichtet, wie es von einer anfänglichen Hitler-Euphorie, -Hingabe und Vergöttlichung "des Führers" (!) während einer wirtschaftlich brisanten Zeitperiode über erst zaghafte, dann immer ernsthaftere Zweifel und einem (oftmals schmerzlichen) Verlauf des Nicht-Wahrhaben-Wollens kam, kommen musste, der schließlich in einem Prozess des Umdenkens und der Desillusionierung mündete.

Der Leser erfährt die Geschehnisse aus damaliger Zeit zunächst aus der Perspektive des kleinen Jungen, später dann des Erwachsenen, jedoch immer aus der Feder einer reflektierenden Person, die es aber dennoch versteht, sich (wieder) in den "Jungen von damals" hineinzuversetzen und das in einem Eins-zu-eins-Verhältnis. Bemerkenswert ist dabei die (erzählerische) Leichtigkeit trotz aller Schwere und Ernsthaftigkeit der Ereignisse, welche den Grundtenor des gesamten Werkes bestimmt und - bei aller Härte der Realität - eine etwa kafkaeske Düsterkeit gar nicht erst aufkommen lässt.

Unverkennbar ist des Weiteren die fachliche Genauigkeit, mit welcher der Autor die verschiedenen Begebenheiten schildert, sei es in Bezug auf architektonische, medizinische oder musikalische "Einlagen", welche auf ein fundiertes (Hintergrund-)Wissen hinweisen - man gewinnt auf alle Fälle den Eindruck, dass der Autor weiß, wovon er spricht und nicht lediglich (Sekundär-)Literatur "gewälzt" hat oder Erfahrungen aus zweiter Hand wiedergibt. Nein, hier spricht jemand, der die Dinge so, wie sie sich abgespielt haben, hautnah (mit-)erlebt hat.

So rezipiert der Leser während der Lektüre der "Memoiren" nicht nur, was damals geschah, sondern er bekommt auch immer mehr eine Vorstellung davon, was für ein Mensch der Akteur des Ganzen war und ist: ein Mann mit Pioniergeist, und das in einem Lebensalter, das heute so manchen Jugendlichen regelrecht als "Waschlappen" erscheinen lässt und damit unweigerlich die pädagogisch-psychologische Frage aufwirft, ob es der Jugend von heute tatsächlich bekömmlich ist, möglichst alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt zu bekommen und damit ihre Eigeninitiative und ihre Kreativität, ihren Wagemut und ihren Tatendrang bereits im Keime zu ersticken, oder ob man damit nicht eher sogar - im Extremfall - den Drogenkonsum und andere Süchte begünstigt, steckt doch dahinter oft ein Mangel an echter Herausforderung oder aber ein Fehlen von Problemlösungsstrategien, welche auf diese Weise dann nicht kompensiert, sondern sublimiert würden.

So ist es denn auch Peter Lückers Intention, u.a. mittels seines Werkes sein Wissen und seine Erfahrung, die er über die Zeit seines Menschenlebens angesammelt hat, nicht mit ins Grab zu nehmen, sondern an die nächste Generation weiterzugeben - nicht etwa mit erhobenem moralischen Zeigefinger oder im Sinne eigener Selbstverherrlichung, sondern zur "Nutzung", wie er es selbst ausdrückt, denn: "nur so kann sich unsere Welt [...] weiterentwickeln".

Alexandra Eryigit-Klos
13.05.2013

 
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Das Buch:

Peter Lücker: Eine Familie im 1000-jährigen Reich. Lebenserinnerungen zwischen Medizin und Musik

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Frankfurt: August von Goethe Literaturverlag 2013
130 S., € 12,40
ISBN: 978-3-8372-1248-8

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