Medien & Gesellschaft

Dem kenianischen Laufwunder auf der Spur

Kenia, ein Land im Osten Afrikas, das mit knapp 40 Millionen Einwohnern zwar nicht einmal halb so viele Menschen zählt wie Deutschland, dafür aber im Langstreckenlauf weltweit seinesgleichen sucht und praktisch konkurrenzlos ist. Jahr für Jahr scheffeln kenianische Athleten bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen in den Laufwettbewerben von 800 Meter bis zum Marathon Edelmetall en masse, mitunter besetzen sie auch gleich das komplette Siegerpodest. Bei den lukrativen Straßenläufen über 42,195 Kilometer rennen kenianische Athleten meist im Pulk vorneweg, so dass beispielsweise für die zehn schnellsten gelaufenen Marathons aller Zeiten acht Kenianer verantwortlich sind.

Gerne wird diese Dominanz dadurch erklärt, dass Kenianer bereits als Schulkinder morgens mehrere Kilometer zur Schule gelaufen sind und nachmittags wieder zurück. Der englische Journalist Adharanand Finn glaubte an eine vielschichtigere und weniger triviale Erklärung und begab sich zur Erforschung des Geheimnisses des kenianischen Langstreckenlaufs für ein Selbstexperiment persönlich in das Land des Laufens. Für gut ein halbes Jahr zog er mit seiner Frau und den drei Kindern nach Iten in die kenianische Hochebene, dort wo die meisten der kenianischen Weltklasseläufer ihre Wurzeln haben.

Finn selbst war als Jugendlicher bereits ein beachtlicher Langstreckenläufer, der den Laufsport allerdings im Laufe der Jahre immer mehr vernachlässigte, bis ihn als Enddreißiger die Aussicht auf eine investigative Story und der Traum des Marathonlaufs anlockten. Mit dem Ziel versehen, sich im Juni 2011 beim Lewa Marathon in einem kenianischen Reservat inmitten wilder Tiere den Ritterschlag als Marathon-Finisher abzuholen, siedelte er im Dezember 2010 mit Kind und Kegel in die kenianische Hochebene über. In Iten und Eldoret scheinen Weltklasseathleten am laufenden Band produziert zu werden. Finn mischte sich unter die dortigen Läufer, um für seine eigene Marathon-Vorbereitung und sein Buch das Erfolgsgeheimnis des kenianischen Langstreckenlaufs zu ergründen.

Als er in Kenia eintraf, traute er zunächst seinen Augen nicht. Während in der westlichen Welt Jogging und der Marathonlauf mittlerweile zu einer Ausgleichsbetätigung der Wohlstandsgesellschaft mutiert ist und primär von Schreibtischtätern betrieben wird, die den natürlichen Drang nach Betätigung nicht mehr in ihrem Arbeitsalltag befriedigt bekommen, laufen in Kenia ausschließlich Athleten. Bei den ersten Trainingseinheiten, die Finn mit den verschiedenen Laufgruppen absolvierte, hatte er trotz seiner für westliche Verhältnisse sehr respektablen läuferischen Voraussetzungen stets erhebliche Mühe, sich am Ende des Feldes durchzuschleppen. Kein Wunder, denn bei jedem Trainingslauf in Iten ist sicherlich mindestens ein Läufer dabei, der irgendwann einmal eine Medaille bei Großveranstaltungen oder eine Zeit unter 2:10 Stunden bei einem großen Stadt-Marathon erzielt hat.

Natürlich bemüht Adharanand Finn auch die gängigen Klischees wie den bereits erwähnten Schulweg, doch stichhaltiger sind für ihn ganz andere Argumente, die den Erfolg der Kenianer erklären lassen. Beispielsweise erkennt er im soziokulturellen Bereich eine bedeutende Ursache dafür: Während hierzulande selbst ambitionierte Läufer stets parallel einem Beruf oder einem Studium nachgehen, konzentrieren sich in Kenia seine Trainingspartner voll und ganz auf den Laufsport. Finanziell wird ihnen dabei von den Familien der Rücken freigehalten, so dass sie sich voll und ganz auf Laufen, Essen, Schlafen und Ausruhen fokussieren können und dabei trotzdem gesellschaftlich allerhöchstes Ansehen genießen.

"Im Land des Laufens" ist nach seinem Erscheinen im Jahre 2012 mehrfach mit den verschiedensten Auszeichnungen versehen worden, so dass der Malik Verlag zwei Jahre nach der Hardcover-Version das Buch nochmals in der vorliegenden Taschenbuchversion herausgebracht hat, was für Bücher dieses Genres eher ungewöhnlich ist. Somit bekommt jeder, der die bisher die Gelegenheit hatte verstreichen lassen, eine zweite Möglichkeit, diesen faszinierenden Bericht über ein Land und seine Läufer zu erwerben. Finn beleuchtet neben seinen Trainingsläufen auch Land und Leute, gibt zahlreiche Anekdoten preis und kommt schließlich dem Geheimnis des kenianischen Laufwunders auf die Schliche. Es sei an dieser Stelle lediglich verraten, dass es nicht die eine zentrale Ursache hierfür gibt, sondern dass es eine Kombination von vielen ist, die kenianische Läufer so schnell und ausdauernd macht.

Wer sich Adharanand Finns Ausführungen einverleibt hat, wird konstatieren müssen, dass es auf Jahrzehnte hinweg unmöglich sein wird, dass europäische Läufer den ostafrikanischen Athleten ihre Dominanz auf den langen Strecken streitig machen können. Zu breit ist die Weltklasse selbst in der Kleinstadt Iten gestreut, wenn Finn morgens um fünf Uhr zu einem angeblich lockeren Läufchen aufbricht, dann aber seine volle Leistung abrufen muss, um nicht abreißen zu lassen. Für "Im Land des Laufens" lässt sich nichts anderes als eine absolute Lese-Empfehlung absprechen. Sowohl der Sport-Interessierte wird dieses Buch verschlingen wie auch derjenige, der sich dem Zauber fremder Länder nicht entziehen kann. Schade, dass Adharanand Finn nur ein halbes Jahr in Iten verbrachte, gerne wäre ihm der Leser noch länger gefolgt.

Christoph Mahnel
05.05.2014

 
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Das Buch:

Adharanand Finn: Im Land des Laufens: Meine Zeit in Kenia

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München: Malik 2014
320 S., € 14,99
ISBN: 978-3-492-40492-1

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