Medien & Gesellschaft

San Diego di Napoli

Die perfide Szenerie, die sich am 3. Juli 1990 im Stadio San Paolo in Neapel zutrug, wird wohl kein Fußball-Fan dieses Planeten jemals vergessen. In der süditalienischen Metropole wird an diesem Abend das Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 ausgetragen. Der Mannschaft des Gastgebers stehen die Argentinier um den seinerzeit besten Kicker des Erdballs, Diego Armando Maradona, gegenüber. Doch anders als zu erwarten hat sich das neapolitanische Publikum in großen Teilen auf die Seite der Südamerikaner geschlagen. Eine skurrile Atmosphäre erfüllte das Stadion, die nicht unerheblichen Anteil daran hatte, dass die favorisierten Italiener im Elfmeterschießen ihre Nerven nicht in den Griff bekamen und überraschend ausschieden.

Doch warum unterstützten die fanatischen Tifosi nicht bedingungslos ihre eigene Mannschaft, um sie ins Finale nach Rom zu tragen? Die Erklärung ist eine Kombination aus zweierlei: Zum einen hatte in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre Maradona als Spieler des heimischen SSC Neapel der gebeutelten Stadt mit italienischen Meisterschaften, Pokalsieg und UEFA-Cup-Triumph ein nie gekanntes Selbstwertgefühl gegeben, das in einer gottgleichen Verehrung der Neapolitaner gegenüber Maradona zurückgezahlt wurde. Zum ande-ren herrscht in Italien ein derartiges Nord-Süd-Gefälle, das den reichen Norden höchst abfällig auf den armen Süden herabblicken lässt, so dass viele Neapolitaner sich damals fragten, ob sie sich 364 Tage im Jahr als Erdfresser beschimpfen lassen, um dann an einem Tag Italien gegen ihren Diego anzufeuern.

Wer diese, hierzulande sicherlich als irreal wahrgenommene Liebe der Neapolitaner zu ihrem Goldjungen, dem "Pibe de oro", wie Maradona stets genannt wurde, und die keine Grenzen kennende Rivalität zwischen Nord und Süd besser verstehen möchte, dem sei die Lektüre von "Eines Tages im Mai", der Geschichte des SSC Neapel, wärmstens empfohlen. Oliver Birkner spannt in diesem Buch den Bogen von den Anfängen des italienischen Fußballs um die Jahrhundertwende sowie der Gründung des SSC Neapel im Jahre 1926 über den Wahnsinn der Maradona-Ära bis hinein in die Gegenwart, in der der SSC Neapel erstmals eine bedeutende sportliche Rolle im italienischen und europäischen Fußball einnimmt, ohne den Boden unter den Füßen verloren zu haben.

Oliver Birkner ist der perfekte Mann für eine detailgetreue Darstellung dieser Materie, denn als Kicker-Korrespondent für den italienischen Fußball liefert er seit Jahr und Tag dem deutschen Fußballfan Einblicke in das Herz des Calcio. Trotz der mit Juventus Turin sowie Inter und AC Mailand drei deutlich erfolgreicheren Vereine aus dem hohen Norden ist der SSC Neapel derjenige Club, der seit jeher für die größten Emotionen im italienischen Fußball steht. Wie Birkner glaubhaft belegen kann, zog der Calcio schon vor Silvio Ber-lusconi zwielichtige Patrone als Präsidenten von Fußball-Clubs magisch an. Dabei war der SSC Neapel mit Achille Lauro und Corrado Ferlaino in den Genuss zweier solcher gottgleicher Gestalten gekommen, die in Deutschland aufgrund ihres Gebärdens und ihrer Äußerungen absolut undenkbar wären.

Dank Maradona erhält "Eines Tages im Mai" wie ein guter Krimi den perfekten Spannungsbogen. Der Leser erfreut sich zunächst an seinem neu erworbenen Wissen über die frühen Jahre des SSC Neapels, doch steuert die Spannung beständig und zielgerichtet auf die Ankunft des Heilbringers im Jahre 1984 zu. Für siebeneinhalb Millionen US-Dollar konnte Ferlaino seinen Wunschkandidaten Maradona vom FC Barcelona loseisen. In Neapel brachen daraufhin alle Dämme, die Verehrung desjenigen, der den Neapolitanern endlich den ersten Scudetto und damit den Triumph über den verhassten Norden bringen sollte, kannte keine Gren-zen. Genauso grenzenlos war schließlich die Freude im Mai 1987, als Maradona und der SSC Neapel die erste italienische Meisterschaft in der Geschichte des Vereins unter Dach und Fach bringen konnten.

Birkner gelingt es dank seines fesselnden Erzählstils in Kombination mit eingestreuten Gastbeiträgen beteiligter Zeitgenossen, den Leser für den SSC Neapel so zu emotionalisieren, dass der leidenschaftliche Fußballfreund bei der Lektüre im Zuge der Ereignisse im Frühsommer 1987 schon eine kleine Freudenträne verdrücken muss. Doch ist mit dem Ende der Ära Maradona noch lange nicht Schluss am Fuße des Vesuvs, sondern hält die Leidensgeschichte des SSC Neapel noch einen äußerst wechselhaften Epilog bereit. Um die Jahrtausendwende erfolgt der finanzielle und sportliche Absturz bis in die Niederungen der dritten Liga, bevor mit Aurelio De Laurentiis erstmals ein weiser Geschäftsmann die Zügel übernahm, den Verein wieder zurück in die Erstklassigkeit beförderte und in den vergangenen Jahren sogar erfolgreich in der Champions League reüssierte.

"Eines Tages im Mai" ist ein weiteres Erfolgskapitel des Göttinger Verlags Die Werkstatt, der regelmäßig hervorragend recherchierte Fußballbücher auf den Markt bringt, die unter den Freunden des runden Leders beinahe neapolitanische Begeisterungsstürme auslösen. Das vorliegende Buch illustriert dabei ganz hervorragend, welche Last Maradona als Jahrhunderterscheinung für den Weltfußball im Allgemeinen sowie für den SSC Neapel im Speziellen zu schultern hatte. Dass er letztlich daran zerbrach, ist leider eine ganz andere Geschichte, die Oliver Birkner natürlich auch nicht unerwähnt lässt und den Fußballfan nachdenklich und doch ein wenig traurig zurücklässt.

Christoph Mahnel
09.12.2013

 
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Das Buch:

Oliver Birkner: Eines Tages im Mai

Göttingen: Die Werkstatt 2013
264 S., € 14,90
ISBN: 978-3-730-70009-9

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