Medien & Gesellschaft

Große Emotionen unterm Zeltdach

Das Münchener Olympiastadion hat in seinen 33 aktiven Dienstjahren bis zum Jahr 2005 wohl alles erlebt, was einer Sportstätte widerfahren kann. Gleich zu Beginn trockneten in ihr die Tränen abertausender Menschen, als nach dem palästinensischen Terroranschlag auf israelische Sportler während der Olympischen Spiele 1972 dort die Trauerfeier für die elf Athleten abgehalten wurde und der damalige IOC-Präsident Avery Brundage mit "the games must go on" die legendären Worte sprach, die versuchen sollten, die heiteren Spiele von München zu konservieren. Vor allem aber wurde das legendäre Stadion mit der unverwechselbaren Zeltdachkonstruktion berühmt und gefürchtet als Spielstätte des FC Bayern München, der nach dem Umzug in den Olympiapark seinen Aufstieg an die Spitze des europäischen Fußballs startete und über drei Jahrzehnte lang so manchen Titel- und Pokalgewinn auf dem Rasen des Olympiastadions feiern durfte.

Armin Radtke konzentriert sich in dem im Jahre 2005 erschienenen Buch "Olympiastadion München - Fußballgeschichte unter dem Zeltdach" vor allem auf die fußballerischen Aktivitäten auf dem Rasen des Olympiastadions und liefert eine allumfassende Geschichte über drei goldene Jahrzehnte in dem berühmtesten deutschen Fußballstadion ab. Neben dem FC Bayern, als dessen glühender Verehrer der Autor bekannt ist, ist natürlich auch die wechselvolle Geschichte des zweiten Münchener Fußballklubs, des TSV 1860 München, eng mit dem Olympiastadion verknüpft. Nicht zu vergessen, dass die deutsche Fußball-Nationalmannschaft 1974 dort mit dem 2:1 gegen die Niederlande seinen zweiten WM-Titel feiern durfte. Auch so manches Europapokal-Endspiel wurde auf dem Rasen des Olympiastadions ausgetragen, sodass nicht nur Münchener Fußballanhänger gerne und wehmütig an dieses besondere Stadion zurückdenken dürften.

Der Autor beschäftigt sich eingehend mit der Entstehungsgeschichte des Stadions, bevor er als ausgewiesener Experte des Münchener Fußballgeschehens sich vor allem auf die legendären Spiele im Olympiastadion stürzt. Gleich in seinem ersten Punktspiel dort konnte der FC Bayern München in einem Endspiel am 34. Spieltag der Saison 1971/72 mit einem 5:1 gegen Schalke 04 die Meisterschale in Empfang nehmen. Damit war ein Auftakt gelungen, der zumindest für die Roten richtungsweisend sein sollte. Dagegen lockten die Blauen - die Rede ist von 1860 München - zwar anfangs sogar die meisten Zuschauer ins Stadion, doch weist Radtke mehrfach daraufhin, dass die Beziehung der Sechziger zum Olympiastadion seit jeher eine komplizierte war. Zu stark waren die Heimatgefühle der Anhänger bezüglich ihres geliebten Stadions an der Grünwalder Straße.

Den Hauptteil des vorliegenden Buches bilden die Berichte über die legendären Spiele im Olympiastadion. Dabei ist es Radtke gelungen, aus der Fülle an möglichen Kandidaten, die das Buch letztlich gesprengt hätten, eine Auswahl zu treffen, die den Fußballfan begeistert zurückblicken und dabei nostalgisch und sentimental werden lässt. Fantastische Europapokalabende gegen Real Madrid und andere europäische Größen sind dabei ebenso enthalten wie sonnige Samstagnachmittage im Mai, an denen die Bayern ihre Meistertitel unter Dach und Fach bringen konnten. Dagegen korreliert das lediglich temporäre Aufflackern unvergessener Fußballspiele der Münchener Löwen mit der wechselvollen Geschichte dieses Klubs, für den das Olympiastadion letztlich doch mehr Fluch als Segen war.

In seinem gelebten Perfektionismus richtet Armin Radtke seinen Blick auch auf diejenigen Spiele im Olympiastadion, in denen weder die Bayern noch die Sechziger beteiligt waren. Die Finals sowie weitere Spiele der WM 1974 und der EM 1988 fanden im Olympiastadion statt. Wer erinnert sich nicht an die jubelnden Holländer um Ruud Gullit oder an den legendären Kunstschuss Marco van Bastens im Finale gegen die UdSSR? Auch der Erzfeind des FC Bayern, die Dortmunder Borussia, feierte ausgerechnet im Münchener Olympiastadion seinen größten Erfolg der Vereinsgeschichte, als er im Jahre 1997 dort das Champions League Finale gegen Juventus Turin mit 3:1 für sich entscheiden konnte. Allen aufgeführten Spielen wird von Armin Radtke ausreichend Platz eingeräumt, sodass das vorliegende Buch jeglichen Vollständigkeitsansprüchen an die Fußballgeschichte des Olympiastadions bestmöglich genügen kann.

Ein Highlight bildet zum Abschluss von "Olympiastadion München - Fußballgeschichte unter dem Zeltdach" der phänomenale Statistikteil. Dabei ist es Armin Radtke tatsächlich gelungen, eine vollständige Übersicht aller Spiele des FC Bayern sowie des TSV 1860 München zu erstellen. Mit der Einschränkung, dass hierbei nur die Spiele der jeweiligen ersten Mannschaften berücksichtigt wurden, kommt er auf über 1.100 Partien, zu denen er Datum, Gegner, Wettbewerb, Ergebnis sowie Zuschauerzahl benennt. Doch im Jahre 2005 war Schluss mit der großen Fußballbühne Olympiastadion, da auch in München der Bedarf nach einem reinen Fußballstadion stetig gewachsen war. Und so zogen die beiden Münchener Vereine ein Jahr vor der WM im eigenen Land in den Norden Münchens, in die Allianz-Arena.

Armin Radtkes Buch ist trotz der acht Jahre, die es seit Erscheinen bereits auf dem Buckel hat, ein immer noch topaktuelles Werk über die Geschichte des wohl bedeutendsten deutschen Stadions. So mancher Fußballfan wird beim Blättern aufgeregt feststellen, dass er bei diesem oder jenem Spiel selbst anwesend war, wobei der Trip ins Stadion oftmals ein ähnlich aufregendes Erlebnis wie das Spiel selbst gewesen sein dürfte. Für alteingesessene Fußballfans wird das vorliegende Werk ein guter Grund sein zu behaupten, dass früher alles besser war. Eventuell ist es sogar Anlass, bei der nächsten Stippvisite in den Süden Deutschlands der Vergangenheit zu frönen und explizit ein paar Stunden für einen Besuch im Olympiapark einzuplanen, von wo aus man mit Blick auf das immer noch atemberaubende Zeltdach in seinen eigenen Erinnerungen an unvergessliche Fußballspiele schwelgen kann.

Christoph Mahnel
15.07.2013

 
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Das Buch:

Armin Radtke: Olympiastadion München - Fußball-Geschichte unter dem Zeltdach

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2005
240 S., € 28,90
ISBN: 978-3-89533-478-8

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