Medien & Gesellschaft

Dokument als Denkmal

Ein Durchgangszimmer ist ein Zimmer, das man f?r sich allein haben kann, ohne sicher zu sein, nicht st?ndig gest?rt zu werden. Das "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg" war so ein Zimmer, in dem ein- und ausging, wer sich der Literatur-, Kunst-, Musik- und/oder Theaterszene zugeh?rig f?hlte. Nicht nur des benannten Stadtbezirks der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Magisch angezogen, sammelten sich in den siebziger, achtziger Jahren die Kreativen, Jungen aus der gesamten DDR. Wer im Prenzlauer Berg und darum herum lebte, merkte kaum, was das Besondere des Besonderen war. Darauf pochte 1998 der Maler Gerhard Hillich. Er sagte: "Der Prenzlauer Berg muss nie existiert haben, der Mythos reicht aus." Eindeutiger, zutreffender, knapper wurde das nie gesagt. Und das bereits in dem 1999 von Barbara Felsmann und Annett Gr?schner publizierten Buch "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg".

Gut ein dutzend Jahre weiter, lange genug von der DDR entfernt, ist das Buch abermals da. Welch ein Buch! Neben Peter B?thigs "Grammatik einer Landschaft" ist die Publikation von Felsmann und Gr?schner das Gescheiteste, was zum ber?hmt-ber?chtigten Prenzlauer Berg ver?ffentlicht wurde. Selbsternannte Experten sprechen von einem Standardwerk. "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg" ist kein Wissenschaftswerk. Es ist so rege, so urspr?nglich, so unvergleichbar, wie die Wirklichkeit f?r die K?nstler war, die sich den Bezirk aneigneten. Sie machten das Territorium durch ihr Tun zur geistigen Heimat. Autonome garantierten ihre Autonomie. Im Umfeld der vermeintlichen Unfreiheit herrschte die Freiheit des Tuns.

Was das f?r jeden Einzelnen bedeutete, ist in den Gespr?chen, die die Herausgeberinnen f?hrten, aufzeichneten, ver?ffentlichten. Mit dem nun gegebenen Abstand betrachtet, ist der Band heute ein Dokument. Er dokumentiert auf lebhafteste Art die bewegten, bewegenden Biographien von Menschen, die ihren Prenzlauer Berg lebten. Was das bedeutete ist nirgendwo so exemplarisch, g?ltig zusammengefasst wie in "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg".

Der Prenzlauer Berg war eine pers?nliche Erfahrung Gleichgesinnter, die fr?h aus dem Elternhaus auszogen. Das Pers?nliche blieb nicht privat. Individualisten sch?tzten ihre Individualit?t und verk?mmerten nicht in individualistischer Selbstgef?lligkeit. Wann, warum und wie etwas Gemeinsames aus dem individuellen Agieren wurde, summiert die Gespr?chssammlung. Welch einen Wert die vielen Worte haben. Welch ein Wert das Ganze! Mit welchem Ergebnis? Ihren Dialog abschlie?end, ?u?erten die Herausgeberinnen: "G.: Es ist schon wieder so eine Agonie wie ?89. / F.: Empfindest du das so? / G.: Ja. F.: Ich auch." Gesagt 1999!

Diese Neuauflage ist ein Geschenk an die Nachgewachsenen. Sie ist ein Geschichtsbuch voller Geschichten. Die passen nicht so recht zu den DDR-Interpretationen derjenigen, die nie die DDR lebten. Zu den Schilderungen der Eingeweihten passen die Erweiterungen der Edition. Das sind zwei Fotolinien, die die Lebenslinien der "Prenzlauer Berger" nicht beliebig illustrieren. Irritierend wie faszinierend Robert Conrads Schwarz-Wei?-Fotos "H?user". Das soll Ostberlin sein? Nicht der achtziger Jahre des 19., sondern des 20. Jahrhunderts? Es war so, als der Slogan die Runde machte: "Ruinen schaffen ohne Waffen." Erstaunlich, wer und was aus den Ruinen auferstanden ist!

Die ebenfalls in schwarz-wei? gehaltenen Aufnahmen von Barbara Metselaar Berthold best?tigen wie forsch, fr?hlich, frei "Menschen" in der ruin?sen Umgebung existierten. Das neu m?blierte "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg" ist tats?chlich ein vielsagendes wie vielseitiges Dokument der Zeitgeschichte, zur Zeitgeschichte. Und: Der Band ist mehr. Er ist ein Denkmal f?r alle Zeiten!

Bernd Heimberger
04.06.2012

 
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Das Buch:

Barbara Felsmann, Annett Gröschner (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg - Eine Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften

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Berlin: Lukas Verlag 2012
462 S., € 26,90
ISBN: 978-3-86732-121-1

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