Medien & Gesellschaft

Der Faszination Fernsehen auf der Spur

In unserer hochentwickelten Gesellschaft hat sich auch das noch recht junge Medium Fernsehen zu einem komplexen, auf den ersten Blick kaum entwirrbaren kulturellen Handlungs- und Symbolsystem entwickelt. Gleichzeitig ist das Fernsehen allgegenwärtig, es gehört zu den favorisierten Freizeit- und Alltagsaktivitäten aller Alters- und Bevölkerungsgruppen und ist in den letzten Jahrzehnten zum Leitmedium in der Mediengesellschaft geworden.

Im Unterschied zu vielen Darstellungen zum Phänomen Fernsehen, die sich auf einen Aspekt konzentrieren und diesen für das Ganze nehmen, geht es dem Film- und Medienwissenschaftler Lothar Mikos um eine größtmögliche Weite des Blicks und um einen dem Gegenstand entsprechenden Differenzierungsgrad.

Sein Ansatz einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens stellt den ehrgeizigen Versuch dar, die Ergebnisse einzelner Forschungsrichtungen zusammenzuführen und die Text-Zuschauer-Interaktion im Rahmen der Fernsehkommunikation auf interdisziplinärer Basis zu analysieren und zu beschreiben. Den ursprünglich aus Großbritannien stammenden Cultural Studies kommt dabei besondere Signifikanz zu. Sie bilden, wie schon für Mikos frühere Arbeiten, den entscheidenden Bezugsrahmen.

Das primäre Unterhaltungsmedium Fernsehen wird als zentraler Bestandteil der Populärkultur verstanden und ist damit einer populären Ästhetik mit den wesentlichen Elementen Spaß, Unterhaltung, Vergnügen, Erholung und Lust verpflichtet. In Abgrenzung zum recht einseitigen Manipulationsvorwurf der kulturkritischen Theorie betont Mikos den aktiven Zuschauer. Fernsehen macht nur Sinn in der Rezeption und Aneignung durch das Publikum, es erlangt Bedeutung und Realisation erst im Gebrauch.

Doch die Perspektive richtet sich auch nicht einseitig auf den Nutzer und vernachlässigt dabei etwa die Botschaften der einzelnen Medientexte und deren Strukturen. Denn aktive Rezeption und aktive Aneignung vollziehen sich nicht voraussetzungslos. Die Fernsehtexte strukturieren die Aktivitäten der Nutzer vor, ihre formale Gestaltung lenken Aufmerksamkeit und Wahrnehmung.

Dieses Verständnis von der wechselseitigen Strukturierung von Text und Zuschauer ist die Grundlage einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens. Doch nach Mikos – und das ist das Neue – kann sie dort nicht stehen bleiben. Will sie ihren Gegenstand adäquat begreifen, muss sie sich den sozialen, kulturellen, lebensweltlichen und gesellschaftlichen Kontexten zuwenden, in denen die wesentlichen Elemente der Text-Zuschauer-Interaktion situiert sind. Das heißt, sowohl die Strukturen und Bedingungen von Fernsehtexten als auch die der Zuschauer sind zu untersuchen.

Sehr detailliert und umfangreich geht Mikos folglich auf den Stellenwert des Fernsehen in der Gesellschaft ein. Eine wesentliche Erkenntnis ist dabei, dass die Fernsehnutzung sich als routiniertes, alltägliches Handeln zu einem wesentlichen Strukturierungselement von Alltag und Freizeit entwickelt hat und sozial immer wichtiger geworden ist.

Das Fernsehen wird von den Menschen in einer auf Individualisierung basierenden Gesellschaft und Kultur in ihre jeweiligen persönlichen Lebens- und Erfahrungsperspektiven, in die alltägliche Kommunikation und Interaktion integriert.

Es schafft Grundlagen für gemeinschaftliche kulturelle Vorstellungen und erlangt wachsende Bedeutung bei der Subjektkonstitution und Identitätsstiftung. Intensiv untersucht Mikos die drei wesentlichen Prozesselemente des Fernsehens: Fernsehrezeption - Fernsehaneignung - Fernsehtexte. Rezeption bezeichnet "die Dauer der konkreten Interaktion des Zuschauers mit dem Fernsehtext".

Zentrale Untersuchungsfelder sind Rezeptionsmotivationen (bewusste und unbewusste), kognitive Aspekte der Bedeutungszuweisung und psychische, kommunikative und emotionale Aktivitäten der Zuschauer in der Rezeption. Unter Aneignung ist dagegen "die Übernahme des rezipierten Textes in den Alltag und die Lebenswelt des Zuschauers" zu verstehen, also die Folgekommunikation, die die Rezeption unweigerlich nach sich zieht: Gespräche über Stars und Medienereignisse, Übernahme von Bildern und Symbolen des Fernsehens in den Alltag, Bildung von Interpretationsgemeinschaften, Fangemeinden, Szenen und Milieus. Mikos überträgt den Textbegriff auf alle Fernsehsendungen und arbeitet – wiederum mit Rückgriff auf Thesen der Cultural Studies – wesentliche Eigenschaften und Eigenarten der Fernsehtexte heraus: Offenheit, Mehrdeutigkeit/Polyvalenz, narrative und visuelle Vermittlungsstruktur bzw. diskursive und präsentative Symbolik sowie Intertextualität.

Repräsentative Genrebeispiele, das Eingehen auf Erzählmuster und inhaltliche sowie ästhetische Standardisierungen runden die komplexe Darstellung ebenso ab wie die eingestreuten Exkurse. In ihnen werden vor dem Hintergrund des zugrundeliegenden Ansatzes die prominentesten Aspekte der Fernsehforschung behandelt: Zappen als Zuschaueraktivität, der "Viewing Contract" und die Faszination von Gewalt in Film und Fernsehen. Im Schlusskapitel schließlich fasst Mikos thematisch geordnet die wichtigsten Erkenntnisse und Bausteine zu seinem Modell einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens nochmals zusammen, wobei auch "Leerstellen" benannt sowie zukünftige Aufgabenbereiche und Perspektiven abgesteckt werden.

Lothar Mikos Buch Fern-Sehen: Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens führt durch schrittweises Vorgehen, stufenweise Entwicklung der Kategorien, exakte Definition der Fachtermini und nicht zuletzt auch durch eine Vielzahl von einschlägigen und leicht verständlichen Beispielen Anfänger behutsam in die Faszination des Fernsehens ein. Es liefert wesentliche Hilfen für das vorurteilsfreie Verständnis der Fernsehkommunikation. Fortgeschrittene und Kenner der Materie erhalten neben einer lesenswerten Einführung in eine Rezeptionsästhetik des Fernsehens zugleich einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand der Medien- und Kommunikationsforschung zum Thema Fernsehen in all seinen Facetten und werden zu eigenen Fragestellungen angeregt.

sth
01.03.2002

 
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Das Buch:

Lothar Mikos: Fern-Sehen: Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens

CMS_IMGTITLE[1]

Berlin: VISTAS 2001 (Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 57)
334 S.
ISBN: 3-89158-308-7

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