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Zeitenwende im Fußball

Nun ist sie Vergangenheit, die am kontroversesten diskutierte Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten. Zwar gab es im vergangenen Jahrhundert schon Turniere in Mussolinis faschistischem Italien oder in Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur, als Folter unweit der Stadien an der Tagesordnung war, doch waren 1934 und 1978 Fußball-Weltmeisterschaften noch nicht das ultimative Produkt globaler sportlicher Unterhaltung und die mediale Aufmerksamkeit war noch Lichtjahre vom heutigen Zustand entfernt. Und dennoch ist es der FIFA gelungen, zum Zwecke der wundersamen Geldvermehrung ein irrwitziges Turnier in Katar zu veranstalten. Während auf der Habenseite Abermillionen an Petro-Dollars stehen, wurden Arbeitssklaven zum Bau von Stadien, die niemals mehr auch nur annähernd angemessen genutzt werden, bis in den Tod getrieben, und hat sich die FIFA vor einem menschenverachtenden Regime prostituiert.

Wirft man die moralischen Bedenken über Bord und verschließt die Augen vor dem ganzen Unrecht, dann war die 22. Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar ein sportlich hochklassiges Turnier. Nachdem in den vergangenen Jahren die alle vier Jahre ausgetragenen Fußball-Weltmeisterschaften gegenüber Champions League und den europäischen Top-Ligen qualitativ immer weiter ins Hintertreffen gerieten, war das Turnier in Katar als Veranstaltung mitten in der Saison sicherlich die bislang hochwertigste Veranstaltung. Ein Reigen von Superstars, die mit ihren Leistungen nicht hinterm Berg hielten, und dramatische Spiele, die schließlich im besten WM-Finale aller Zeiten gipfelten, mit dem sich Lionel Messi als einer der herausragendsten Fußballer der Geschichte die Krone aufsetzte. Aus FIFA-Sicht war Katar 2022 somit ein voller Erfolg, für den Fußball und sein moralisches Verständnis hingegen eine einzige Bankrotterklärung.

Kurz nach dem Ende eines globalen oder kontinentalen Fußballturniers ist immer auch die Zeit der traditionellen Turnierbücher. Mit "Fußball-WM 2022" vom kicker liegt hier das sicherlich prominenteste Machwerk dieser Art auf dem deutschen Büchermarkt vor. Jörg Jakob als kicker-Chefredakteur wusste eine hochwertig besetzte Riege an Reportern und Journalisten hinter sich, mit deren Hilfe er bereits während des Turniers wesentliche Bestandteile des Buches erstellen konnte, so dass es bereits vier Tage nach dem Finale zwischen Argentinien und Frankreich erscheinen konnte, gerade noch rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest. Dass natürlich ob des miserablen deutschen Abschneidens der Absatz von "Fußball-WM 2022" nicht durch die Decke schießen würde, muss den Machern vom kicker und den Herausgebern vom Werkstatt-Verlag bereits im Turnierverlauf klargeworden sein.

Trotz aller schlechter Vorzeichen haben Jakob und seine Leute ein Hochglanzprodukt abgeliefert, das sich nicht scheut, die unangenehmen Wahrheiten an- und auszusprechen. Natürlich folgt dieses Buch den üblichen Strukturen, ist chronologisch aufgebaut, durchsetzt mit tollen Aufnahmen, angereichert mit aussagekräftigen Spielstatistiken inklusive der vergebenen kicker-Noten für alle Spieler. Doch fällt in diesem Jahr auf, dass es deutlich mehr Einschübe mit Kommentaren und Hintergrundthemen gibt. Selbst die unsägliche Diskussion um die "One Love"-Binde ist Gegenstand eines expliziten Einwurfs. Beim Blättern durch das knapp 200 Seiten umfassende Buch ist man hin- und hergerissen, ob man nochmal ins Schwärmen geraten soll ob der teilweise fantastischen Leistungen und Dramen, die sich in Katar abspielten, oder ob man moralisch erhaben bleiben und die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 auch noch ex post kategorisch ablehnen soll?

Jeder Fußballfan wird hier seinen eigenen Weg finden müssen und sich über dieses Turnier hinaus mit der Frage beschäftigen müssen, welche Wege der Fußball zukünftig beschreiten wird und welche davon er noch bereit ist mitzugehen. Wenn dieser Tage gesellschaftlich und politisch von einer Zeitenwende die Rede ist, dann lässt sich dies auch auf den Fußball münzen, und "Fußball-WM 2022" ist somit ein Buch über eine Zeitenwende im Fußball-Business. Es markiert den vorläufigen Höhepunkt an Unverfrorenheit seitens der FIFA und wird den Zeitpunkt eines Umdenkens markieren. In welcher Form und in welchem Ausmaß dieses Umdenken stattfinden wird, ist unklar, doch dass es so nicht weitergehen kann, darin sind sich fast alle Anhänger des runden Leders einig.

Christoph Mahnel
30.01.2023

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