Biographie

Was zu beweisen gewesen wäre

Im Jahre 2000 hielt es das im US-amerikanischen Cambridge angesiedelte "Clay Mathematics Institute" für angebracht, eine Bestandsaufnahme in der Mathematik zu machen. Man beratschlagte sich, welche mathematischen Vermutungen zum Jahrtausendwechsel noch ungelöst seien und zugleich im Falle ihrer Lösung die Mathematik wesentlich voranbrächten. Anders als der deutsche Mathematiker David Hilbert, der im Jahre 1900 eine Liste mit insgesamt 23 zum damaligen Zeitpunkt ungelösten Problemen zusammenstellte, einigte man sich einhundert Jahre später auf insgesamt sieben Stück. Doch damit nicht genug: Wer eines dieser sieben Probleme lösen sollte, dem wäre ein Preisgeld von sage und schreibe einer Million Dollar gewiss!

Während sich die meisten Mathematiker auf der ganzen Welt einig waren, dass sie die Ausschüttung des Preisgelds nicht mehr selbst erleben würden, bastelte ein zurückgezogen lebender russischer Mathematiker an der Lösung der "Poincaré-Vermutung", eines der sieben sogenannten "Millennium-Probleme". Das neue Jahrtausend war keine zwei Jahre alt, da schockte er die Welt der Mathematik mit einer ersten Ankündigung, dass er das Problem bewiesen habe, was er mit einer ersten Beweisskizze belegte. Von da an begann der übliche und meist mehrere Jahre dauernde Prozess der Verifikation des inzwischen vollständig vorliegenden Beweises. Da eine solche Überprüfung nur von wenigen Menschen auf der Erde überhaupt vorgenommen werden konnte, dauerte es mehrere Jahre, bis der Beweis als korrekt bestätigt werden konnte. Im Jahre 2010 sprach das "Clay Mathematics Institute" dem Urheber schließlich das Preisgeld über eine Million Dollar zu, doch dieser lehnte schlichtweg ab.

Die Rede ist von dem russischen Mathematiker Grigori Perelman, dessen Wesen die Journalistin Masha Gessen in dem vorliegenden Buch "Der Beweis des Jahrhunderts" nachzugehen versucht. Dabei ist es ihr Hauptanliegen, das Wesen des Genies zu ergründen und eine Erklärung zu finden, warum er denn so unkonventionell handelte. Perelman lehnte nämlich nicht nur das Preisgeld für seinen Beweis der "Poincaré-Vermutung" ab. Seine Vita kennt hinsichtlich besonderer Vorkommnisse durchaus noch weitere Kapitel: Bereits 1996 lehnte er den renommierten Preis der Europäischen Mathematischen Gesellschaft ab, 2006 widersetzte er sich sogar der Verleihung der Fields-Medaille, dem mathematischen Äquivalent zum Nobelpreis, und das, nachdem er ein Jahr zuvor seine Anstellung am mathematischen Institut in Sankt Petersburg gekündigt hatte, um sich aus der Welt der Mathematik zurückzuziehen.

Masha Gessen, eine heute zwischen den USA und Russland pendelnde Journalistin und Autorin verschiedener Sachbücher, gelingt es, die Vita Perelmans parallel zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der einstigen UdSSR zu entwickeln. Basierend auf zahlreichen Gesprächen mit Perelmans Wegbegleitern seit Kindertagen gelingt es ihr, ohne je mit Perelman selbst in Kontakt gekommen zu sein, ein sehr detailliertes Bild über die Entwicklung des jungen Perelman zu zeichnen. Schockierend ist dabei vor allem die Schilderung des in Perelmans Kindheits- und Jugendjahren in der UdSSR vorherrschenden Antisemitismus. Perelman, selbst jüdischen Ursprungs, gelang es dank seiner außergewöhnlichen Genialität trotzdem, die diskriminierenden Zulassungsbeschränkungen für Juden zu überwinden. Da jedoch Leistungen an dieser Stelle nur bedingt extreme Ausprägungen von Antisemitismus überkommen können, waren es vor allem seine Förderer, die von ihm überzeugt waren und ihn auf seinem Weg auf den mathematischen Olymp protegierten.

Anders als Donal O'Sheas vor einigen Jahren erschienenes Buch "Poincarés Vermutung", das als populär-wissenschaftliche Abhandlung vor allem die Mathematik hinter der mehr als einhundert Jahre alten topologischen Fragestellung des französischen Mathematikers Jules Henri Poincaré zum Inhalt hat, konzentriert sich Masha Gessen ausschließlich auf die Person des Lösungsfinders. Dies wird mit dem Untertitel des vorliegenden Buches "Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman" eingangs sogleich klargestellt. Da Gessen wie Perelman in der ehemaligen UdSSR geboren ist und die mathematischen Institutionen, die Perelman einst in Sankt Petersburg respektive Leningrad durchlief, aus eigener Erfahrung kennt, ist sie geradezu designiert, die Wesensentwicklung Perelmans nachzuzeichnen.

"Der Beweis des Jahrhunderts" gibt hervorragende Einsichten in den Kosmos der Mathematik sowie dessen Protagonisten. Es bestätigt dabei durchaus einige Vorurteile hinsichtlich der Verschrobenheit und Singularität einzelner Individuen. Im Falle Perelmans ließe sich sogar ein proportionaler Zusammenhang zwischen Genialität und Merkwürdigkeit herleiten. Das vorliegende Buch ist für Normalsterbliche uneingeschränkt lesbar, da man keine mathematischen Grundkenntnisse benötigt und Masha Gessen einen direkt in die Welt der Mathematiker abtauchen lässt, ohne sich um die topologischen Hintergründe zu kümmern. So kann man sogar als mathematisch Ungebildeter an einer spannenden Jagd um das Geheimnis einer hundert Jahre alten Vermutung teilhaben und das Treiben der handelnden Personen staunend beobachten.

Christoph Mahnel
01.07.2013

 
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Das Buch:

Masha Gessen: Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigorij Perelman

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Berlin: Suhrkamp Verlag 2013
300 S., 22,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42370-7

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