Biographie

George , Kevin und Jérôme

George Boateng, 30 Jahre, hat sein großes fußballerisches Potential als Jugendlicher regelrecht verschwendet und konnte im Gegensatz zu seinen beiden jüngeren Brüdern nie im Profibereich Fuß fassen. Heute züchtet er Hunde, versucht sich in der Musikbranche und verfolgt aus nächster Nähe die Karrieren seiner beiden Brüder.

Kevin-Prince Boateng, 25 Jahre, war das mit Abstand größte Talent aller Zeiten im deutschen Jugendfußball. Eine exorbitante Karriere war ihm von allen Seiten vorausgesagt worden. Mit zahlreichen Eskapaden und dem wohl bekanntesten Foul der jüngeren Fußballgeschichte schaffte er es jedoch vor allem mit Negativschlagzeilen ins Rampenlicht. Nach einem überzeugenden Auftritt mit Ghana bei der WM 2010 und teilweise hervorragenden Leistungen im Trikot des AC Mailand ist Boateng in den letzten beiden Jahren allerdings auf die Erfolgsspur zurückgekehrt.

Jérôme Boateng, 23 Jahre, litt in jungen Jahren unter dem Rüpel-Image von Kevin-Prince, obgleich er als ehrgeiziger Musterprofi einen gänzlich anderen Weg eingeschlagen hatte. Früh war er bei Hertha BSC Berlin und Hamburger SV eine Stammkraft in der Fußball-Bundesliga geworden, bevor ein Abstecher auf die Insel zu Manchester City den bisherigen Karriere-Tiefpunkt markierte. Seit seiner Rückkehr nach Deutschland zum FC Bayern München ist er jedoch dort sowie in der deutschen Nationalmannschaft eine gesetzte und nicht mehr wegzudenkende Stammkraft.

Die noch jungen Lebensläufe der drei Boatengs könnten gleichzeitig nicht unterschiedlicher sein und dabei dennoch unzählige Verknüpfungspunkte haben und sich gegenseitig bedingen. Letzteres wird einem allerdings erst bei einer tieferen Betrachtung der Umstände klar. Bei dieser Einsicht leistet Michael Horeni als Autor des vorliegenden Buches hervorragende Arbeit, da er den vielen aus der Presse überlieferten Mythen und Geschichten Fakten und Stellungnahmen aus den Mündern der drei Brüder gegenüberstellt.

Hochwertiger Sport-Journalismus

Michael Horeni gilt in Fachkreisen als einer der bedeutendsten deutschen Fußballjournalisten und ist Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er vor einigen Jahren mit seinem Buch "Vom Hemd zum Helden" bekannt, in dem er seinen Selbstversuch schilderte, wie er als in die Jahre und aus der Puste gekommener Nicht-mehr-Sportler die neuartigen Fitness-Methoden des damaligen Bundes-Klinsi für sich annahm und sich mit höchster Disziplin auf das Fitness-Niveau der Nationalspieler hievte.

Gute Sportbücher und Fußballliteratur zu finden, ist bei der Fülle an Büchern auf dem Markt ein wahrer Glücksgriff. Erleichtert wird einem die Suche dann, wenn wie im vorliegenden Fall ein anerkannter Autor hinter dem Produkt steht. Und tatsächlich ist die Aufarbeitung der Geschichte der Boatengs ein mehr als lesenswertes Buch über Fußball, unsere Gesellschaft und die Probleme, die ein Aufwachsen in sozialen Brennpunkten sowie unter besonderen familiären Gesichtspunkten mit sich bringt.

George und Kevin haben denselben Vater und dieselbe Mutter, Jérôme denselben Vater wie George und Kevin, allerdings eine andere Mutter. George und Kevin sind im Berliner Wedding groß geworden, einem der Viertel in Deutschland, das bei dem Stichwort „Sozialer Brennpunkt“ stets unter den ersten drei Aufzählungen zu finden ist. Jérôme dagegen ist bei seiner Mutter, einer Stewardess, im beschaulichen und bürgerlichen Berliner Stadtteil Wilmersdorf aufgewachsen. Unterschiedliche Voraussetzungen für drei Jungen, die alle die impulsiven und leidenschaftlichen fußballerischen Gene ihres Vaters Prince geerbt haben, der Anfang der Achtziger aus Ghana zum Studieren nach Berlin gekommen war.

Wie ein roter Faden zieht sich das Verlangen der drei Brüder nach einer Identifikationsfigur durch das Buch. Während Prince Boateng für Jérôme sowie dessen Mutter auch nach der Trennung sehr viel Zeit investiert hatte, gab es für George und Kevin keinen väterlichen Halt. Dies kompensierten die Brüder untereinander, indem jeder zu dem jeweils älteren aufschaute und die drei einen starken Zusammenhalt entwickelten. Naturgemäß hatte mit George in dieser Konstellation der älteste Bruder die schlechtesten Karten, was auch relativ naheliegend seine Entgleisungen erklärt, die mangels einer haltgebenden und richtungsweisenden Vaterfigur beinahe schon zwangsläufig geschahen.

Horeni hat für seine Biografie der noch jungen Karrieren der Boatengs zahlreiche Gespräche und Interviews mit den Protagonisten sowie denjenigen Leuten gesucht, die die Jungs während ihrer Kindheit und Jugend eng begleitet hatten. Allerdings ist es Horeni - bis auf wenige kurze Gesprächsmomente - nicht gelungen, die Sicht von Kevin-Prince aus erster Hand berichtet zu bekommen. Das vorliegende Buch fußt aufgrund der Schweigsamkeit des skandalträchtigsten der drei Brüder vor allem auf den Erzählungen von George und Jérôme. Doch korrigieren auch diese beiden sowie ehemalige Lehrer und Trainer von Kevin-Prince dasjenige Bild, das die Medien in den vergangenen Jahren aufgrund der Vorfälle um den impulsiven Instinktfußballer gerne aufgebaut haben. Darauf, dass ihm dabei Charakterzüge auferlegt worden sind, die nicht unbedingt der Realität entsprechen, wird im vorliegenden Buch Wert gelegt.

"Die Brüder Boateng" ist kein typisches Sportbuch, das chronologisch die Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte von Fußballern erzählt. Horeni hat sehr darauf geachtet, die familiären und sozialen Hintergründe der drei Brüder aufzuarbeiten und dabei vorzugehen, wie es einem seriösen Journalisten zu eigen ist. In der Vergangenheit hatte nämlich auch der Boulevard sein Scherflein dazu beigetragen, dass vor allem Kevin-Prince stets mit dem Beinamen „Ghetto-Kid“ versehen und als solches betrachtet wurde. Der Leser bekommt mit "Die Brüder Boateng" nicht nur eine tiefe Einsicht in die Entwicklung der drei Karrieren, sondern lernt auch viel über das heutige Deutschland, über den Wandel der Gesellschaft und ein Land, in dem zukünftig die Nationalspieler nicht mehr nur Müller, Maier oder Schumacher heißen werden.

Christoph Mahnel
30.04.2012

 
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Das Buch:

Michael Horeni: Die Brüder Boateng - Drei deutsche Karrieren

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Stuttgart: Tropen Verlag 2012
272 S., € 18,95
ISBN: 978-3-608-50308-1

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