Biographie

»Meine einzige Freude hier sind Eure Briefe ...«

Nach dem Tode des SPD-Politikers und früheren Bundesjustizministers Gerhard Jahn 1998 fanden sich in seinem Nachlass 250 Briefe, die er und drei seiner Schwestern an ihre Mutter, die 1943 internierte Jüdin Lilli Jahn, ins Arbeitserziehungslager Breitenau geschrieben hatten. In der Familie tauchten nun noch andere Schreiben auf, die das Schicksal der deutsch-jüdischen Familie dokumentieren. Originalbriefe und narrative Passagen aneinander knüpfend, biografiert Martin Doerry das Leben seiner Großmutter bis zu ihrem Tode 1944 in Auschwitz. Neben den sehr privaten Briefen Lillis an Ernst aus der Zeit vor der Hochzeit und der Korrespondenz, in der von Schikanen der NS-Schergen berichtet wird, sind es vor allem die zu Herzen gehenden Briefe zwischen Immenhausen und Breitenau – von Lilli vor ihrem Abtransport heimlich herausgeschmuggelt –, welche die Zeit so lebendig werden lassen.

Lilli Schlüchterer, 1900 in Köln geboren, wächst in aufgeklärten, gutbürgerlichen Verhältnissen einer jüdischen Großstadtfamilie auf. Während ihres Medizinstudiums lernt sie 1923 den Arzt Ernst Jahn kennen, ihre große Liebe. Er ist ein melancholisch veranlagter Mensch, der sich schwer tut, Fuß zu fassen in seinem Beruf. In mehreren Städten versucht er sein Glück, ehe er im nordhessischen Immenhausen bei Kassel auf die Übernahme einer Landarztpraxis hoffen darf. Lillis Briefe sind vor allem von den immer neuen Versuchen geprägt, ihn aus seiner grüblerisch-pessimistischen Stimmung zu locken. Ihr lebensfrohes und selbstbewusstes Auftreten steht im krassen Gegensatz zu dem, was wir über ihren schwärmerisch »Amadé« genannten Liebsten erfahren, für den eine als Ärztin praktizierende Frau an seiner Seite nur schwer vorstellbar ist. Lilli hingegen wischt Ernsts Bedenken beiseite und macht konkrete Vorschläge für eine gemeinsame Zukunft. Seinem Wunsch entsprechend, aus ihr eine »mütterliche Gefährtin« zu machen, spricht sie ihn mit »mein lieber, kleiner Amadé« an. Später wird sie erkennen müssen, dass sie beide einer Projektion erlegen waren: Ernst wird weiterhin ein spröder und entscheidungsschwacher Mensch bleiben, während ihr die so genannten »unweiblichen« Eigenschaften, an denen er sich stößt, noch zugute kommen sollten, nämlich Selbstständigkeit, intellektuelle Souveränität sowie Beharrlichkeit und innere Stärke.

Denn nach 16 Jahren Ehe, fünf Kindern und den überwundenen Anfangsschwierigkeiten in der Immenhäuser Praxis passiert 1942 das Unfassbare, womit später die Familie noch lange, lange Jahre hadern und die Briefe fest verschlossen halten wird: Ernst Jahn gibt dem Druck seiner vom Nationalsozialismus geprägten Umwelt nach und lässt sich von seiner jüdischen Ehefrau scheiden, obwohl warnende Stimmen ihn darauf aufmerksam machen, dass Lilli und ihre halb jüdischen Kinder nun nicht mehr vor dem Zugriff der Gestapo sicher sind. Mit Wohlwollen der die »Mischehe« scharf beobachtenden örtlichen NS-Behörden heiratet er seine »arische« Kollegin Rita.

Nach der Scheidung nehmen die Anfeindungen in der ohnehin vom Antisemitismus geprägten Zeit noch zu, bis Lilli schließlich verhaftet und nach Breitenau in Guxhagen südlich von Kassel interniert wird. Die Kinder bleiben allein zurück, Gerhard ist knapp 16 Jahre alt, Ilse 14, Johanna 13, Eva zehn und Dorothea knapp drei. Nach der Zerstörung des Wohnhauses beim schweren Bombenangriff auf Kassel im Oktober 1943 kehren die Kinder nach Immenhausen zurück, wo sie mit der neuen Frau des Vaters und deren Tochter unter einem Dach leben, der Vater wurde eingezogen. Die Briefe, die sie an ihre so sehr vermisste Mutter schreiben, sind geprägt von den Problemen, die sich aus der Wohnsituation ergeben, durch Berichte der Versorgungslage, jugendtypische Gedanken und Äußerungen oder auch Schulerlebnisse. Lilli ist stets bemüht, alles über ihre Familie und Freunde zu erfahren und, nicht zuletzt, ob ihr Exmann irgendwelche Anstrengungen unternimmt, dass sie wieder zurück zu ihren Kindern kann. Bis zuletzt verlieren weder sie noch die Kinder und Freunde diese Hoffnung.

Vieles in den Briefen steht zwischen den Zeilen, das durch ausführliche Recherche des Autors nun offenbar wird. Sein Bericht schiebt sich zwischen die Briefe, wobei er sich aber streng an die Rolle eines externen Biografen hält, ohne, wie Martin Walser in seiner Rezension des Buches (SZ, 8. 8. 02) feststellt, »die geringste stilistische oder literarische Ambition«. Die Authentizität der Briefe bleibt voll erhalten; abgesehen von den undramatisch dargebotenen Hintergrundinformationen haben sie weder eine Kommentierung noch ein subjektives Anheizen des Lesermitleids nötig. Doerrys Motiv, die in der Familie streng gehüteten Zeugnisse des NS-Terrors einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, liegt vielmehr darin, einer »merkwürdigen Verzerrung« des Geschichtsbildes in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken, das durch die hauptsächlich am »Schindler-Modell« orientierten literarischen Szenarien entstanden ist – dem Bild einer »Schreckensherrschaft, der die meisten am Ende doch entronnen sind«.

Lilli Jahn ist im September 1944 in Auschwitz »verstorben«, wie eine letzte bürokratische Aktennotiz an den Bürgermeister von Immenhausen verrät. Mit der Dokumentation ihres Leidens und dem ihrer Kinder wird Lillis »verwundetes Herz« direkt an die Nachkommenden weitergereicht. Kein Mensch kann sich der Rührung angesichts der so schutzlosen Kinder und ihrer streitbaren, aber der NS-Willkür ausgelieferten Mutter entziehen. Eine »Reinigung« durch Katharsis und viele, viele Tränen bleibt bei dieser Tragödie indes aus. Wir Nachkommenden müssen die Vergangenheit weiter ertragen.

dgk
04.12.2002

 
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Das Buch:

Martin Doerry: »Mein verwundetes Herz«. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944

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München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002
352 S., € 24,90
ISBN: 3-421-05634-X

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